Neonazi-Prozess: War es wirklich Notwehr oder doch ein Angriff?

Erstveröffentlicht: 
18.11.2013

Auf einem Parkplatz in Riegel greifen Antifaschisten einen Neonazi an, der fährt einen Angreifer um. Nun wird der Prozess vor dem Landgericht in Freiburg neu aufgerollt.

 

Ist es Fassade oder ein Zeichen des Wandels? Spielt S. dem Gericht den geläuterten jungen Familienvater vor, der seinem früheren Leben als Neonazi abgeschworen hat? Oder sitzt da einer auf der Anklagebank, der dem Muster vieler Angeklagten aus der rechten Szene folgt und einfach nur schweigt? Nicht mal ein Wort des Bedauerns kommt ihm über die Lippen.

Vermummte rennen auf sein Auto zu


Dabei ist die ihm zur Last gelegte Tat unstrittig: Am 1. Oktober 2011 stand S. mit seinem Auto auf einem Parkplatz in Riegel. Er wartete auf Gäste einer Party der rechten Szene, er sollte die Besucher hier abholen. Er telefonierte, als plötzlich eine Gruppe Vermummter auf sein Auto zugerannt kam, in ihnen erkannte er "Zecken", wie er seinem Gesprächspartner am Telefon noch zurief, ehe er losfuhr. Er bog aber nicht in einen Fluchtweg ab, sondern steuerte das Fahrzeug auf die Gruppe der antifaschistischen Szene zu. Er fuhr einen jungen Mann um, der sich schwere Verletzungen zuzog, und gab wieder Gas. So weit der Vorgang.

Juristische Bewertung strittig


Strittig ist dessen die juristische Bewertung. In erster Instanz hat das Landgericht den heute 31-jährigen S. vom Vorwurf des versuchten Totschlags, der gefährlichen Körperverletzung sowie der Fahrerflucht freigesprochen. Das Gericht sah eine Absicht hinter der Tat als nicht zwingend erwiesen an und ging zu seinen Gunsten von einer Panikreaktion in einer Bedrohungssituation aus. Sowohl der Staatsanwalt als auch die Nebenkläger gingen in Revision, der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil auf und verwies den Fall zur Neuverhandlung zurück ans Landgericht, an eine andere Kammer. Mit Vorgaben, worauf das Gericht genauer zu achten habe.

S. kennt also den Platz, auf dem er an diesem Montag erneut Platz genommen hat. Er wirkt jünger, als er ist, trägt zur Jeans ein schwarzes Jackett, der V-Ausschnitt des Pullunders bietet genug Platz, den Krawattenknoten vorzuführen. Die spärlichen Haare trägt er kurz, aber keinen Glatzenschnitt. Das Reden überlässt er seinem Verteidiger, der eine Erklärung verliest. Angaben zur Person, mehr nicht, zur Sache werde sich sein Mandant nicht äußern. S. sitzt nahezu regungslos an seinem Platz, lediglich die Kiefer mahlen sichtbar. Mehr Regung lässt er an diesem ersten Verhandlungstag nicht erkennen. Wenn er hinüberschaut zu den Nebenklägern, den "Zecken", wie er sie nennt, ist dennoch zu erkennen: Hier entsteht keine Freundschaft. Auf beiden Seiten nicht.

Er hat für die NPD kandidiert


S. ist nicht irgendwer. Er hatte 2011 für die NPD bei der Landtagswahl kandidiert, war Wortführer der "Kameradschaft Südsturm Baden" und der "Freien Kräfte Ortenau", organisierte Kundgebungen zum Todestag von Rudolf Heß und zum Jahrestag der Deportation der südbadischen Juden nach Gurs, er hielt Kontakt zu anderen Gruppen aus der rechtsradikalen Szene. Die Liste ließe sich fortsetzen. S. war also eher Führer denn Mitläufer. Nachdem Antifaschisten ihn geoutet hatten, erschien im Internet ein Video von ihm: Er warte nur darauf, "dass einer mal angreift", dann könne er den "endlich mal die Klinge fressen lassen". Und: "Das Schöne daran, es wäre sogar Notwehr." Einen solchen Angreifer, eine "Zecke", mit einem Messer zu erstechen "muss doch ein Gefühl sein, wie wenn man kurz vor dem Ejakulieren ist". Der Kammervorsitzende trägt die Passagen vor, der BGH verlangt, dies müsse bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden – wieder zeigt S. keine Regung, sondern sein freundliches, schmales Vertretergesicht.

Drei Tage nach Erscheinen des Clips hat S. in Riegel einen Angreifer angefahren. Einen aus der linken Szene, eine "Zecke", wie er sie nennt. Der Verletzte zog sich unter anderem eine Hirnblutung zu, lag auf der Intensivstation, musste später das Sprechen teilweise neu lernen. Sie habe die Sorge gehabt, er werde sterben, sagte die erste Zeugin in dem Revisionsverfahren. Sie ist Krankenschwester und wartete an jenem Tag auf dem Park-&-Ride-Platz auf eine Kollegin.

Sah es nach Absicht aus?


Das Geschehen spielte sich direkt vor ihren Augen ab. Sie habe eine Gruppe von sechs bis acht jungen Leuten auf sich zukommen sehen, alle schwarz gekleidet und vermummt. Sie habe Angst bekommen, das Auto verriegelt. "Da ist er" habe einer gerufen, dann seien alle losgerannt, in Richtung des Autos, in dem S. saß. Sie hätte gehört, wie das Auto losfuhr, die Reifen drehten durch, dann seien die Angreifer zur Seite gesprungen, der Hintere habe aus ihrer Sicht wohl nicht mehr ausweichen können und sei von dem Fahrzeug erfasst worden. Ein zweiter Zeuge sagt später aus, "es sah nach voller Absicht aus", er habe sofort die Polizei verständigt, weil es einen "Mordanschlag" gegeben habe.

Die Antifa-Leute wussten von der Soli-Party für den Südsturm in Bahlingen, sie kannten den Treffpunkt und wussten, wer den Fahrdienst übernommen hatte. Dass sie ihn attackieren wollten, steht außer Frage. In dem zweiten Prozess wird es daher erneut um die Frage gehen, wie weit das Notwehrrecht gilt. Selbst wenn die Möglichkeit bestanden hätte zu fliehen und so der Konfrontation auszuweichen, S. musste diesen Weg nicht wählen. Notwehr heißt, dass man sich – angemessen – wehren darf. Allerdings hätte das Landgericht die Vorgeschichte der Auseinandersetzung würdigen müssen. War es Notwehr, oder sah da einer die Chance gekommen, in die Tat umzusetzen, was er zuvor nur herbeifantasiert hatte?

Auch die Annahme, S. habe in Panik reagiert, die in erster Instanz entscheidend zum Freispruch beigetragen habe, müsse genauer begründet werden. Immerhin habe S. in einer polizeilichen Vernehmung angegeben, er habe verschiedene Fluchtwege und seine fahrerischen Möglichkeiten abgewogen. Das klinge gerade nicht nach Panik.

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