Nichts gelernt aus dem NSU-Desaster?

Erstveröffentlicht: 
05.10.2013

von Heike Kleffner

Wird derzeit in den Medien über Rechtsextremismus berichtet, steht zumeist der laufende NSU-Prozess in München im Fokus des Interesses. Während es dort um Befangenheitsanträge und neue Zeugen geht, darf jedoch das vermeintlich magere NPD-Ergebnis von 1,3 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl kein Anlass zur Sorglosigkeit sein. Allzu leicht gerät dabei aus dem Blick, dass die NPD mancherorts deutlich mehr Stimmen holte als die FDP, etwa in Sachsen oder in Berlin-Hellersdorf, wo sie jeweils mehr als 4 Prozent erzielte.

 

Zudem sind die Nachrichten aus der Sächsischen Schweiz alarmierend: Anfang September verletzten Neonazis hier innerhalb von zwei Wochen zwei Jugendliche so schwer, dass sie stationär behandelt werden mussten: In der Nacht zum 7. September 2013 griff ein Dutzend Neonazis eine Hamburger Schülergruppe in der Jugendherberge von Bad Schandau an. Die Täter misshandelten einen Schüler chinesischer Herkunft so massiv, dass er sich einer Kieferoperation unterziehen musste. Wenig später wurde ein Jugendlicher beim sogenannten Oktoberfest in Cotta/Dohma im Elbsandsteingebirge angegriffen und mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Auch hier gehen die Ermittler von einem politisch rechts motivierten Angriff aus. In der Region erreicht die NPD durchschnittlich zehn Prozent der Wählerstimmen und die Opferberatung der RAA Sachsen hat hier seit Jahresbeginn mindestens eine politisch rechts motivierte Gewalttat pro Monat registriert.

 

Die Situation in der Sächsischen Schweiz veranschaulicht wie unter einem Brennglas die gesamtdeutsche Entwicklung seit der Selbstenttarnung des NSU: Sowohl in Bezug auf die Entwicklung der Neonaziszene als auch der staatlichen Antworten lässt sie sich mit einem schlichten „Weiter so wie bisher“ zusammenfassen. Neonazistische Organisierung und Gewalt werden ignoriert und verharmlost, so lange es geht.

 

Besonders alarmierend ist dabei, dass die gemeinsamen Feststellungen, Bewertungen und Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag von den Verantwortlichen in Politik und Strafverfolgungsbehörden in Bund und Ländern schlicht ignoriert werden. Hinzu kommen eine mediale Darstellung sowie behördliche Analysen, die den „Nationalsozialistischen Untergrund“ als vermeintlich singuläre Erscheinung und quasi abgeschlossene Geschichte qualifizieren. Doch die Realität sieht viel bedrohlicher aus: Sie ist gekennzeichnet von rassistischen Kampagnen gegen Flüchtlinge, einer breiten Verankerung extrem rechter Lebenswelten sowie organisierter politisch rechts und rassistisch motivierter Gewalt.

 

Rassistische Kampagnen


Seit Monaten führen vermeintlich unabhängige „Bürgerinitiativen“ und die NPD in ost- und westdeutschen Kommunen Kampagnen gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte. Unter dem Motto „Nein zum Heim“ fordern sie regelrecht offen zu Gewalt gegen Asylsuchende auf. Dabei offenbart sich ein gewalttätiger Rassismus, der vielen Beobachtern – insbesondere in strukturschwachen ländlichen Regionen – als Vorbote einer neuen Welle rassistischer Gewalt wie in den frühen 1990er Jahren erscheint.

 

In den gemeinsamen Bewertungen des NSU-Untersuchungsausschusses heißt es zu dieser Phase, in der sich das mutmaßliche NSU-Kerntrio und die Mehrheit seiner Unterstützerinnen und Unterstützer radikalisierte: „Diese rassistisch motivierte Gewalt wurde in den neuen Bundesländern vielfach im öffentlichen Raum, vor den Augen zahlreicher – oftmals sympathisierender – Anwohner verübt, ohne dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden wirksam auf Seiten der Opfer eingriffen und effektiv und erkennbar gegen die Täterinnen und Täter vorgingen. Potentielle Nachahmer und Sympathisanten der extremen Rechten konnten sich dadurch ermutigt und bestätigt fühlen.“[1]

 

Die Parallele zu den frühen 1990er Jahren und zur damaligen „Asyldebatte“ drängt sich auch deshalb auf, weil sich auch 20 Jahre später rassistische Gelegenheitstäter und Neonazis gleichermaßen durch Aussagen von Kommunal- und Bundespolitikern wie dem bisherigen Innenminister Hans Peter Friedrich (CSU) legitimiert fühlen, die vor einer „alarmierenden“ Anzahl von Asylsuchenden warnen und von vermeintlichen „Grenzen der Belastbarkeit“ sprechen.[2]

 

Seit Jahresanfang stieg dementsprechend die Zahl von Drohungen gegen und Angriffen auf Flüchtlingsheime, Wohnhäuser von Roma und Sinti sowie antirassistische Aktivistinnen und Aktivisten. Beispielhaft dafür ist der 2000-Einwohnerort Vockerode im Landkreis Wittenberg (Sachsen-Anhalt), wo im Frühjahr maskierte rechte Angreifer in eine Flüchtlingsunterkunft eindrangen. Dabei verletzten sie zwei Menschen, einen davon vor den Augen der Polizei. Doch nicht nur der Osten ist Schauplatz solcher Gewalt: Im oberfränkischen Fichtelberg stürmten im Januar zehn Vermummte Parolen brüllend eine Asylbewerberunterkunft, nachdem monatelang auf einer neonazistischen Website gegen das Heim gehetzt worden war.

 

Dass Gewalt in diesem Kontext auch von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern als selbstverständliche „Lösung“ angesehen wird, zeigt sich in Rackwitz, einer 5000-Einwohner-Ortschaft bei Leipzig. Dort sollen in einem ehemaligen Lehrlingswohnheim 120 Asylsuchende untergebracht werden. Quasi live kann man auf „Youtube“ die Gemeinderatssitzung vom 29. August 2013 mitverfolgen: Dorfbewohner und ein halbes Dutzend NPD-Aktivisten brüllen mit einem Mix aus rechtspopulistischen, rassistischen und neonazistischen Parolen die Vertreter des Landratsamts und den Leipziger Polizeipräsidenten Bernd Merbitz nieder, bevor sie sie vollends sprachlos machen.[3] Auf dem Weg zur Bürgerversammlung hatte eine Frau angekündigt, entweder werde das Haus jetzt abgefackelt oder später – wenn es bewohnt sei.[4]

 

Schon jetzt lässt sich ein fataler Unterschied zu den 1990er Jahren feststellen: Während damals Hunderttausende mit Demonstrationen und Lichterketten auf die rassistische Gewalt und die faktische Abschaffung des Artikel 16 GG reagierten, meldet sich die liberale, bürgerliche und kirchliche Mitte derzeit nur zögerlich zu Wort.[5] So gelingt die dringend notwendige Präsenz vor Ort allenfalls in Großstädten wie Berlin, während in Rackwitz alle Gemeinderäte ihre Bürger sogar dazu aufriefen, einer antirassistischen Demonstration fernzubleiben.

 

Kein Grund zur Entwarnung


„Immer in die Fresse, bis keiner mehr lacht, wird der Gegner niedergemacht. In der Zelle aufgewacht. Trotzdem hat es Spass gemacht. Terror und Gewalt – Bullerei, der Gegner, der wird abgeknallt“, so lautet ein programmatischer Liedtext der Band „Kategorie C – Hungrige Wölfe“. Wie eng Musik und potentieller Neonazi-Terror verwoben sind, zeigte das Ergebnis einer Razzia des LKA Thüringen Ende August dieses Jahres unter anderem in der „Hausgemeinschaft Jonastal“ im thüringischen Crawinkel und anderen Neonazi-Wohngemeinschaften und -immobilien. Im Fokus der Ermittler: Ein Netzwerk deutscher und österreichischer Neonazis namens „Objekt 21“, das im Nachbarland durch Anschläge, Überfälle, Sprengstoff- und Waffenfunde sowie Organisierte Kriminalität aufgefallen ist.

 

Dass neonazistische Gewalt auch auf niedrigerer Stufe erhebliche Folgen haben kann, wird derzeit auch in Bayern und Nordrhein-Westfalen deutlich. Dort versuchen sogenannte Autonome bzw. Freie Nationalisten mit gezielten Angriffen, „politische Gegner“ zu bedrohen und einzuschüchtern. Dies trifft Nebenklagevertreter von NSU-Opferangehörigen genauso wie Flüchtlings- und Antifa-Aktivisten.

 

Angesichts von täglich zwei bis drei politisch rechts motivierten Gewalttaten in Deutschland, angesichts eines Dutzends ungeklärter Sprengstoffanschläge in den 1990er und 2000er Jahren und angesichts der Durchdringung der Neonaziszene mit Waffen, ist die Selbstenttarnung des NSU überhaupt kein Grund zur Entwarnung: Denn das NSU-Kerntrio und seine Unterstützerinnen und Unterstützer sind nur ein kleiner Teil jener Generation von Neonazis, die die Terrorkonzepte des „führerlosen Widerstands“ verinnerlicht haben. Und ihre Nachahmerinnen und Nachahmer stehen längst in den Startlöchern. „Beate Zschäpe, das ist unsere Braut“ und „NSU; NSU“ grölten beispielsweise rund 100 Neonazis und Hooligans aus Sachsen und Berlin bei einem Fußballspiel des SV Babelsberg gegen Lokomotive Leipzig Anfang August 2013.

 

Doch es muss bezweifelt werden, dass Verfassungs- und polizeilicher Staatsschutz die vom NSU-Untersuchungsausschuss angemahnte verbesserte Analysefähigkeit tatsächlich aufbringen. Immer gesetzt den Fall, dass rechtsterroristische Strukturen überhaupt erkannt werden. Denn insbesondere der bisherige Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Klaus Dieter Fritsche, den viele Beobachter für den faktischen Bundesinnenminister halten, hatte in seiner Aussage vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss darauf beharrt, dass er die Frage der Vergleichbarkeit von NSU und RAF noch immer nicht für abschließend geklärt halte.

 

Fritsches Position kann als symptomatisch gelten – für die Liga der Leugner von Rechtsterrorismus und neonazistischer Gewalt. Er hatte bereits im Jahr 2003, damals noch als Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), auf die Frage nach der Existenz einer „braunen RAF“ erklärt: „In der Presse wird behauptet, dass es im Rechtsextremismus sehr wohl ein potentielles Unterstützerfeld [für aus der Illegalität agierende Neonazis, Anm. d.A.] gebe. Hierzu wird auf die drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen, die seit mehreren Jahren ‚abgetaucht’ seien und dabei sicherlich die Unterstützung Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegen zu halten, dass diese Personen auf der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben. Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität.“[6] Zweifel an der Wirksamkeit der ohnehin jeglicher wirklichen Kontrolle entzogenen „Reformen“ im BfV sind daher mehr als angebracht.[7]

 

Im Stich gelassen: Zivilgesellschaft und Beratungsprojekte

 

Unabhängige Experten wie Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz) warnen derzeit vor allem davor, die sinkenden Teilnehmerzahlen von Neonazi-Aufmärschen und den desolaten Zustand der NPD als gutes Zeichen zu deuten. Die Präsenz von Neonazis, rassistischer Gewalt und extrem rechten Bewegungen beeinflusse den Alltag in vielen Kommunen heute genauso tiefgreifend wie in den 1990er Jahren. Auch Robert Kusche, Geschäftsführer der Opferberatung bei der RAA Sachsen, ist pessimistisch: „Wir sehen vielerorts schlicht Gewöhnung daran, dass extrem rechte Alltagskultur – von Dortmund bis zur Sächsischen Schweiz und Nordvorpommern –, ganz selbstverständlich dazu gehört, zum Beispiel in Form von Neonazitreffpunkten und -Immobilien, Rechtsrock-Konzerten, Gewalt und NPD-Stadträten.“ Und noch immer sei die Angst vieler Kommunalpolitiker vor einem vermeintlichen Imageverlust der Region größer als die Empathie mit den Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt. Dass sich daran in absehbarer Zeit wenig ändern wird, lassen auch die Ergebnisse der Wahlen bei den Unter-18jährigen befürchten. Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD jeweils seit zwei Legislaturperioden im Landtag vertreten ist, kommt die Neonazipartei dort auf über sechs Prozent der Stimmen.[8]

 

Gerade weil eine wirksame Auseinandersetzung mit der extremen Rechten nicht alleine Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten überlassen bleiben dürfe, seien „zivilgesellschaftliche Stimmen unverzichtbar, nicht nur als Frühwarnsystem“[9], lautet eine der zentralen Schlussfolgerungen des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Einmütig forderten die Abgeordneten von CDU/CSU bis Linksfraktion daher auch eine Erhöhung der Fördermittel für die spezialisierten Beratungsprojekte und zivilgesellschaftliche Initiativen.

 

Im grün-rot regierten Baden-Württemberg verhallt dieser Appell jedoch bislang ebenso ungehört wie im CSU-regierten Bayern: In beiden Bundesländern gibt es weder flächendeckende spezialisierte Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt noch Mobile Beratungsteams.

 

Und auch in Sachsen will man von einer Erhöhung der Fördermittel partout nichts wissen, ganz im Gegenteil: Geht es nach der Landesregierung, wird es im Freistaat bald keine unabhängige Beratung für die Opfer rechter und rassistischer Gewalt mehr geben und auch keine Beratung für Kommunen wie Vockerode oder Rackwitz. Denn das Sozialministerium des Freistaats weigert sich seit Monaten beharrlich, knapp 280 000 Euro Kofinanzierung für die Opferberatung der RAA Sachsen und das Kulturbüro Sachsen in den Haushalt 2014 einzustellen. Die sächsische Landesregierung verweigert die vom Bund verlangte Kofinanzierung, vielleicht auch, um sich so der ungeliebten „Nestbeschmutzer“ auf kaltem Weg zu entledigen.

 

Fest steht: Sowohl die weitere parlamentarische Aufklärung des NSU-Komplexes als auch die dringend notwendige Erhöhung der Mittel für zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen wird wesentlich davon abhängen, dass eine kritische Öffentlichkeit beide Themen nicht aus den Augen verliert und dies auch gegenüber der neuen Bundesregierung deutlich macht.

 


[1] Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses, BT-Ds. 17/14600, S. 844 ff. 

[2] Vgl. Zahl der Flüchtlinge steigt um 112 Prozent, www.focus.de, 14.8.2013; Kommunen haben Grenzen der Belastbarkeit erreicht, www.focus.de, 15.8.2013.

[3] Vgl. www.youtube.com/watch?v=qOFg1t-wXLQ. 

[4] Vgl. Annette Ramelsberger, Zum Beispiel Rackwitz, in: „Süddeutsche Zeitung“, 13.9.2013. 

[5] So in dem Aufruf „Flüchtlinge schützen – Rassistischen Kampagnen entgegentreten“, www.proasyl.de. 

[6] Vgl. BT-Ds. 17/14600, S. 229. 

[7] Vgl. dazu auch Micha Brumlik und Hajo Funke, Auf dem Weg zum „tiefen Staat“, in: „Blätter“, 8/2013, S. 77-84. 

[8] Vgl. www.u18.org/das-projekt-u18. 

[9] Vgl. BT-Ds. 17/14600, S. 865 f. 

 

(aus: »Blätter« 10/2013, Seite 21-24)