Vorbeugend in Haft - Wer einmal eine Torte warf, dem traut man nicht.

Wer einmal eine Torte warf, dem traut man nicht. Vor allem, wenn die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit anstehen. Das bekam die Stuttgarter Gewerkschafterin Ariane R. (30) zu spüren. Am Morgen des 3. Oktober wurde sie vorsorglich in "Unterbindungsgewahrsam" genommen. Sie soll am Vorabend eine DDR-Ausstellung überfallen und Ausstellungstafeln geraubt haben.

 

Ihre Schwarzwälder Kirschtorte ist berühmt. Nicht, weil sie so gut schmeckt, sondern weil sie Günther Oettinger traf, just in dem Moment, als der damalige Ministerpräsident 2007 im Haus der Wirtschaft zu seiner Rede zum zehnjährigen Jubiläum der Gesellschaft pro Arbeit ansetzte. Die seinerzeit 24-jährige Studentin Ariane R. wollte mit ihrer Aktion gegen die Politik der Ein-Euro-Jobs protestieren und auf die ungerechte Verteilung des Reichtums aufmerksam machen. Der Redner blieb unverletzt und nur leicht bekleckert, weil er den Wurf geschickt abgewehrt hatte. Seine Personenschützer überwältigten die Tortenwerferin, Oettinger verzichtete auf einen Strafantrag, die Staatsanwaltschaft sah kein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung. Warum also über die Torte reden? Weil sie womöglich heute noch eine Rolle spielt.

 

Der Meinung ist jedenfalls Cuno Hägele. "Nur weil die Kollegin schon mal eine Torte geworfen hat, glaubt man, so vorgehen zu können", sagt der Stuttgarter Verdi-Bezirkschef. Heute ist Ariane R. 30 Jahre alt, seit dreieinhalb Jahren Sekretärin bei der Dienstleistungsgewerkschaft und bekannt als "dynamisch, intelligent und sehr links", wie Verdi-Landeschefin Leni Breymaier sagt. Am Morgen der Stuttgarter Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit wurde die junge Frau vorsorglich festgenommen. Unterbindungsgewahrsam nennt sich diese umstrittene polizeiliche Maßnahme, bei der eine betroffene Person daran gehindert werden soll, eine Straftat zu begehen. Kritiker sehen darin einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze, weil es sich um Freiheitsentzug ohne Straftat handelt.

 

Ariane R. hatte als Jugendsekretärin zur Gegendemonstration aufgerufen, unter dem Motto "Ihre Einheit heißt Krise, Krieg und Armut", doch sie selbst verbrachte den Tag der Deutschen Einheit weder am Verdi-Stand in der Ländermeile noch demonstrierend auf der Straße, sondern in Haft . "Auch an einem solchen Tag müssen kritische Worte erlaubt sein, nicht nur salbungsvolle Reden", sagt Cuno Hägele und betont: "Zwischen die Kollegin und Verdi passt kein Blatt Papier." Den Verdacht hält er für konstruiert, die junge Kollegin für unschuldig, und hinter dem Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft sieht Hägele Methode: "Da soll eine kritische Stimme mundtod gemacht werden."

 

Was war passiert? Am Abend vor dem Tag der Deutschen Einheit hat eine Gruppe von etwa 20 verkleideten Menschen die DDR-Ausstellung "Die heile Welt der Diktatur? Herrschaft und Alltag in der DDR" im Jugendhaus Mitte überfallen, die der Lernort Gedenkstätte und das Jugendhaus Mitte zum Tag der Deutschen Einheit zeigen wollten. Die Kostümierten, die Polizei spricht von faschingsähnlicher Vermummung, rissen Ausstellungstafeln von der Wand und nahmen sie mit. Die Aktion richte sich gegen die "geschichtsrevisionistische Darstellung der DDR und das nationalistische Spektakel, das der Legitimierung der herrschenden Politik dienen soll", erklärte eine "Revolutionäre Aktion Stuttgart" am Tag darauf. Eine Zeugin will Ariane R. trotz Vermummung als eine Täterin erkannt haben. Am Morgen des 3. Oktober stand die Polizei vor ihrer Tür.

 

Hausdurchsuchung am Einheitstag

 

Es war 7 Uhr morgens, als die Beamten Ariane R. aus dem Bett klingelte. "Sie haben im Schrank nach verdächtigen Kostümen gesucht und nichts gefunden", sagt Ariane R., die bei Verdi "Ari" geruften wird. Bis gegen 11 Uhr suchten die Beamten nach verdächtiger Kleidung, nahmen dann aber nur Kamera, Computer und mobile Telefone zur Auswertung mit – zwei private, das Verdi-Diensthandy und auch das Telefon ihres Freundes, so Ariane R. Inzwischen hat sie eine alte Nummer wiederbelebt, weil Freunde, die sie sprechen wollten, immer auf der Polizeiwache in der Hahnemannstraße gelandet sind. Dorthin wurde auch sie nach der Hausdurchsuchung gebracht und berichtet: "Ich wurde erkennungsdienstlich behandelt und bis 20 Uhr festgehalten mit der Begründung, dass ich seit Wochen Straftaten geplant habe."

 

Ariane R. ist eine, die sich einmischt. Mit Attac hat ihr politisches Leben begonnen, als Geschichts- und Philosophiestudentin hat sie den Bildungsstreik 2009 mit organisiert, bei der Stuttgarter Gemeinderatswahl vor vier Jahren auf der Liste der Linken kandidiert, und sie engagiert sich gegen Rechtsextremismus, Krieg und Sozialabbau. "Soziale Proteste sind Grundlage für eine Veränderung des Kapitalismus", ist auf ihrer Internetseite zu lesen. Bei Verdi fühlt sich die streitbare Frau gut aufgehoben. "Ich finde es richtig, gegen soziale Ungerechtigkeit vorzugehen", sagt sie, "da bin ich bei der Gewerkschaft genau richtig."

 

DNA-Abgleich mit Ausstellungsstücken

 

Beim Tortenwurf wurde die Staatsanwaltschaft nicht aktiv. Doch nun ermittelt sie gegen Ariane R. wegen des Tatverdachts auf Raub. "Derzeit werden DNA-Spuren von der Ausstellung und von der Hausdurchsuchung vom Landeskriminalamt ausgewertet", sagt Pressestaatsanwalt Stefan Biehl. Wie lange das dauert, und ob es zu einer Anklage kommt, kann er nicht sagen: "Die Ermittlungen dauern an."

 

Der Stuttgarter Verdi-Bezirk hat eine eher kryptische Solidaritätserklärung auf seine Homepage gestellt. "Die Geschäftsführung des Verdi-Bezirks Stuttgart verurteilt das Vorgehen der Stuttgarter Polizei und Justiz gegen eine Verdi-Beschäftigte im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit." Wer nicht weiß, um was es geht, wird daraus nicht schlau. Doch bei Verdi wurde bewusst so entschieden, so Cuno Hägele, weil man eine öffentliche Vorverurteilung der Kollegin fürchte – nicht zuletzt wegen ihres Tortenwurfs vor sechs Jahren. Doch wenn die staatsanwaltlichen Ermittlungen abgeschlossen sind, plant Verdi eine öffentliche Veranstaltung. "In Göppingen werden kritische Antifaschisten eingekesselt, und hier kastelt man eine kritische Frau ein", sagt Bezirksgeschäftsführer Cuno Hägele, "das kann nicht unkommentiert bleiben."