Strom oder Heimat

Erstveröffentlicht: 
12.10.2013

Es gibt nur wenige Orte auf der Erde, an denen der Mensch brutaler in die Natur eingegriffen hat: Fünf Kilometer ist der Tagebau Garzweiler breit, stellenweise etwa 200 Meter tief. Wo einst Dörfer standen, fressen sich heute die größten Bagger der Welt durch Erdmassen und hinterlassen eine Mondlandschaft. Das Ziel: In den nahen Kraftwerken jenen Strom zu produzieren, der bei Umweltschützern auch noch als Klimakiller verschrien ist. Weil die Braunkohle in Deutschland dringend gebraucht wird, hielt der Energiekonzern RWE seinen Kritikern bislang stets entgegen.


Nun gibt es genau daran Zweifel - im Konzern selbst. Offiziell hält RWE an seinen Plänen für den Tagebau Garzweiler fest. Doch intern werden Szenarien für den baldigen Ausstieg durchgespielt. Statt 2045 könnte im Tagebau Garzweiler angesichts sinkender Strompreise und immer teurerer Emissionsrechte bereits ab 2017 oder 2018 Schluss sein. Die Pläne für massenhafte Umsiedelungen aus den nächsten Dörfern, die vom Riesenloch verschluckt werden sollen, laufen derweil munter weiter.

Am Ende ist angesichts solchen Taktierens die Geduld der Betroffenen. Sie sollen in den kommenden Jahren verlieren, was ihnen keiner ersetzen kann: Heimat.Lokalpolitiker und Bürger gehen zu Recht auf die Barrikaden. Wirtschaft und Politik sind ihnen rasche Antworten schuldig. Denn immer offensichtlicher wird, dass die Tagebaue angesichts des Booms bei grünem Strom in Deutschland und der rasanten Energiewende in der heutigen Größenordnung künftig nicht mehr gebraucht werden.

Immer deutlicher wird auch, wie sehr die Energiewende das Land bereits verändert, dessen industrieller Aufschwung viele Jahre vor allem auf Kohle beruhte. Steinkohle machte das Ruhrgebiet zur Schmiede Europas, Braunkohle elektrifizierte West- wie Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun ändern sich die Voraussetzungen für fossile Energieträger im Eiltempo. Die Energiezukunft des Landes ist derweil auch im Revier längst sichtbar. Neben den Schloten des Braunkohlekraftwerks Niederaußem drehen sich die riesigen Räder eines Windparks.

Markus Balser