Doppelspiel der Schlapphüte?

Erstveröffentlicht: 
22.05.2013

Man habe keine Hinweise auf die NSU-Terrorgruppe gehabt. Das erklärten Innenminister Reinhold Gall (SPD) und Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube kürzlich bei der Vorstellung ihres Berichts. Doch das Amt weiß mehr, als es zugibt. Hatte es sogar direkten Kontakt zur NSU-Gruppierung? Kronzeuge für diesen Verdacht ist ein früherer Mitarbeiter.

 

Der Kronzeuge heißt Günter Stengel. Seine Geschichte, die die Öffentlichkeit erstmals im Sommer 2012 erfuhr, geht weiter. Im August 2003 hatte Stengel im Auftrag des LfV in den Räumen der evangelischen Kirche in Flein bei Heilbronn einen Informanten getroffen, der von einer rechtsradikalen Terrorgruppe in Ostdeutschland namens NSU berichtete. Eine Gruppierung wie einst die RAF, nur eben rechts. Der Informant nannte fünf Personen, die zur Gruppe gehörten. Einer hieß Mundlos. Das erzählte Stengel am 13. September 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin. Auf dem Tisch stand damals ein Namensschild, auf dem er als "Günter S." abgekürzt war. Die ersten Worte des Zeugen waren: "Ich heiße Stengel, das darf jeder wissen."

Stengel, so seine Schilderung weiter, musste seinen Bericht über das Treffen auf Anweisung seiner Vorgesetzten in den Reißwolf stecken, Begründung: Eine Gruppe namens NSU gebe es nicht, und Einzelpersonen beobachte man nicht. Stengel machte lediglich einen Eintrag in NADIS, dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem der Verfassungsschutzämter. Den Informanten nannte er im Ausschuss "Stauffenberg", weil der sich selber so nannte. Jetzt weiß man mehr über Stauffenberg sowie über das, was der wusste. Stauffenberg war einmal V-Mann des LfV, Deckname Erbse, und soll mit bürgerlichem Namen Torsten O. heißen.


Ein Rest von Erinnerung


Von den fünf Namen, die er im August 2003 dem LfV übermittelte, konnte sich Stengel nur den von Mundlos sicher merken. Deshalb hat er nur den im Ausschuss erwähnt. Aber er hatte sich alle fünf notiert gehabt und deshalb einen Rest von Erinnerung. Jetzt sagt er, die anderen vier waren: Beate Zschäpe ("zu 95 Prozent"), André Kapke ("zu 70 Prozent"), Daniel Peschek ("zu 60 Prozent") und Ralf Wohlleben ("zu 60 Prozent"). 

Mundlos, Zschäpe, Kapke und Wohlleben stammen alle aus Jena, wo sie neonazistisch aktiv waren, unter anderem im Thüringer Heimatschutz, aus dem der NSU hervorging. Peschek ist ein Neonazi aus Zwickau. Gegen Kapke ermittelt die Bundesanwaltschaft erst seit Januar 2013. Sein Handy war am 4. November 2011 in Eisenach in derselben Funkzelle eingeloggt, in der sich der Wohnwagen befand, in dem Böhnhardt und Mundlos tot aufgefunden wurden.

Zschäpe und Wohlleben sitzen auf der Anklagebank in München, wobei die Person Wohlleben von doppeltem Interesse ist. Im Jahr 2003 sah Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster, wie er am 22. November 2012 vor dem Berliner Ausschuss beteuerte, den Namen Wohlleben auf einer Liste des Bundesamts für Verfassungsschutz mit V-Leuten in NPD-Vorständen. Ralf Wohlleben war NPD-Vorstand in Jena und stellvertretender NPD-Vorstand von Thüringen. Einen anderen NPD-Funktionär mit dem Namen Wohlleben gibt es nicht.

Stauffenberg/Erbse/Torsten O. will persönlich Kontakt zu diesen NSU-Leuten gehabt haben. Er besuchte sie in Thüringen und Sachsen, sie ihn in Heilbronn. Damit hatte das LfV Baden-Württemberg spätestens im August 2003 eine Verbindung zum NSU. Wer im Amt angewiesen hat, den Bericht Stengels mit den Namen Mundlos und wahrscheinlich Zschäpe, Wohlleben, Kapke und Peschek sowie dem Begriff NSU zu vernichten, muss eine Ahnung von der Bedeutung der Informationen gehabt haben. LfV-Präsidentin Beate Bube sagte letzte Woche, seit 1998 habe man gewusst, dass nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gefahndet wurde. Im Jahr 2003 hatte der NSU – mutmaßlich – bereits vier Morde begangen.

Den Kontakt zur rechtsextremen Szene in Ostdeutschland hatte Torsten O. bekommen, so Stengel, als er in den 90er-Jahren eine mehrjährige Haftstrafe wegen Bankraubs absaß. Seine Täterschaft an diesem Raub bestreitet er nebenbei.

Als der Verfassungsschützer Stengel den Informanten im August 2003 in Flein traf, will er nicht gewusst haben, dass es sich um eine frühere Quelle des Amtes gehandelt hat. Man habe ihm das nicht mitgeteilt. Spätestens als er seinen Personeneintrag in NADIS machte, hätte das geschehen müssen, denn in der Datei dürfen keine V-Leute gespeichert werden. Dass es sich bei Stauffenberg/Torsten O. um die Quelle Erbse gehandelt hat, habe er erst jetzt durch die Berichterstattung erfahren.

 

Wann und wie lange war Torsten O./Erbse V-Mann des LfV in Stuttgart? Expräsident Helmut Rannacher erklärte am 18. April vor dem Ausschuss in Berlin: "Etwa vier Monate." Den Namen Torsten O. nannte er nicht. Die Zusammenarbeit sei abgebrochen worden, weil er nicht führbar gewesen sei. In welchem Jahr das war, sagte Rannacher nicht. Er wurde von den Abgeordneten auch nicht danach gefragt. Jetzt erfahren wir aus Kreisen des LfV: Torsten O. war bereits Ende der 80er-Jahre, 1987 oder 1988, V-Mann, eingesetzt im Bereich Rechtsextremismus im Raum Heilbronn. Leiter der Abteilung für Rechtsextremismus im LfV war damals Helmut Rannacher. Und Bettina Neumann war seine Stellvertreterin und Nachfolgerin, als er LfV-Chef wurde. Torsten O./Erbse war ihr Mann. Beide sagten im April vor dem NSU-Untersuchungsausschuss, das LfV hätte mangels Quellen keinen Zugang zu Rechtsextremisten gehabt.

Wie lange war Torsten O. V-Mann? Die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) schrieb Ende August 2012: "Bis Anfang 1990." Das wären mindestens eineinhalb Jahre gewesen. Wenn die SZ die Information, was anzunehmen ist, aus dem Amt hat, kann man davon ausgehen, dass die V-Mann-Tätigkeit länger dauerte. Die Zeitung hat sich im Sommer 2012, genau wie der Südwestrundfunk, zum Sprachrohr der Behördenkampagne gegen Stengel gemacht, als klar war, dass der vor dem Untersuchungsausschuss aussagen werde. LfV, Landeskriminalamt und Generalbundesanwaltschaft stellten den früheren Verfassungsschützer als "unglaubwürdig" hin. Die Medien übernahmen diese Abqualifizierung.


Züge einer Parallelstruktur werden sichtbar

Wurde der V-Mann Erbse tatsächlich abgeschaltet? Oder seine Mitarbeit nur ruhen gelassen, solange er im Knast war? Jedenfalls: Wenn es stimmt, dass der LfV-Mitarbeiter Günter Stengel im August 2003 zu Torsten O. geschickt wurde, ohne ihn darüber aufzuklären, dass er es mit einem Ex-V-Mann zu tun hat, dann hat das Amt ein Doppelspiel getrieben. Dann sind hier Züge einer Parallelstruktur sichtbar geworden. Und dann könnte das erklären, was mit Herrn Stengel weiter geschah.

2005 bekam er einen Anruf aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Im NADIS-Archiv war der Kollege auf Torsten O. gestoßen und fragte nach weiteren Informationen. Hintergrund: Der damalige Vorsitzende des Innenausschusses des deutschen Bundestags, Sebastian Edathy, der jetzt auch den NSU-Untersuchungsausschuss leitete, hatte sich zum Antrittsbesuch angekündigt und Fragen zu einem "Torsten O(...)" gestellt, weil der ihm ein Buch, seine Autobiografie, geschickt hatte.

Stengel hatte in seinem Computer noch Stichworte des Treffens mit Torsten O. von 2003, die er per E-Mail dem BfV-Kollegen zukommen ließ. Daraufhin wurde er zur Amtsleitung zitiert und offiziell gerügt. Der neue LfV-Präsident, der 2005 Nachfolger von Helmut Rannacher wurde, hieß Johannes Schmalzl, derzeit Regierungspräsident in Stuttgart. Schmalzl wurde 2011 als möglicher Generalbundesanwalt und Nachfolger von Monika Harms gehandelt, hatte als loyaler Staatsdiener durchaus Chancen, wurde aber mittels Indiskretionen dann verhindert. Generalbundesanwalt wurde, kurz vor Aufdeckung des NSU-Komplexes, Harald Range.

Schmalzl sagte im September 2012 vor dem NSU-Ausschuss, er könne sich nicht an die Sache und an eine Rüge für den Mitarbeiter Stengel erinnern. Lediglich daran, ihn im Jahre 2007 in den Ruhestand versetzt zu haben. Stengel bekam Beförderungsstopp und wurde ernstlich krank. Er schied aus dem Dienst aus, 55 Jahre alt.

Sebastian Edathy erinnert sich heute nicht mehr an das Buch eines gewissen Torsten O. In seinem Büro habe sich keines gefunden. Ein Exemplar befindet sich aber beim LfV Baden-Württemberg.


Merkwürdigkeiten im Alltag des Kronzeugen häufen sich

Dann kam der 4. November 2011 mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und der Aufdeckung der NSU-Mordserie. Günter Stengel hörte, wie die Bundeskanzlerin schwor, alles zur Aufklärung zu unternehmen, und wie sie bat, dabei mitzuhelfen. Er wandte sich daraufhin an das BKA.

 

Er wollte mitteilen, was er 2003 erfahren hatte. Doch dann suchten ihn Beamte des Landeskriminalamts auf und eröffneten ihm, es werde geprüft, ob er sich eines Geheimnisverrats schuldig gemacht habe. Stengel wollte die Ermittlungen nicht passiv abwarten, sondern erstattete Selbstanzeige bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Von dort kam später die Antwort: Nein, es liege nichts gegen ihn vor.

Aber es häuften sich die Merkwürdigkeiten in seinem Alltag. Er wurde observiert. Und zwar so, dass er es bemerken sollte. Er kennt das, er hat selber für das LfV jahrelang Observationen durchgeführt und geleitet. Sein Telefon wurde abgehört, so dass er es merken sollte. An seinem Auto klemmten an der Windschutzscheibe unter den Wischern Zettel mit Sätzen wie "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Er geht davon aus, das waren seine Exkollegen. Er weiß: Das ist "Psychoterror", damit will man jemanden einschüchtern. Geheimdienstmethoden, wie sie DDR-Oppositionelle einst über die Stasi berichteten. Man kann Stengel das ruhig glauben, denn noch mehr Personen, die im NSU-Komplex aufdecken wollen, werden in diesen Zeiten beschattet. Ein Opferanwalt aus München berichtet Ähnliches. Doch wer weist das an: anstatt zehn Morde aufzuklären, Aufklärer zu verfolgen?


Aufklärer als Nestbeschmutzer angeprangert


Am meisten verletzt hat Günter Stengel, so sagt er, dass er persönlich herabgewürdigt und als Nestbeschmutzer hingestellt wurde. Als jemand, der sich grundlos aufspielen und das Amt schlechtmachen wollte. Eigentlich weiß er immer noch nicht, was er eigentlich falsch gemacht haben soll. Er hat 2003 beim Treffen mit Torsten O. ordnungsgemäß seine Arbeit getan und wollte 2011 mithelfen, eine Mordserie aufzuklären. Das gebieten Moral, Gewissen und Verantwortung. Stattdessen ist nun seine Zivilcourage gefordert.

Torsten O. soll nach 2011 von den Ermittlern neu vernommen worden sein. Das erklärte der Leiter der Sonderkommission zum Polizistenmord in Heilbronn, Axel Mögelin, in der Ausschusssitzung vom 13. September. Den Namen Torsten O. sprach auch er nicht aus. Aber: Der Mann soll nichts über Mundlos und NSU und dergleichen ausgesagt haben. Nicht einmal etwas über Rechtsextremismus.

Wo ist Torsten O.? Es findet sich eine Adresse in Heilbronn, nicht weit weg vom Hauptbahnhof und dem Tatort Theresienwiese. Doch in dem Haus wohnt niemand mit dem Namen. In den Unterlagen der Hausverwaltung findet sich zu keiner Zeit ein Mieter namens Torsten O. Der Telefonanschluss ist intakt, aber nur die Mailbox springt an. Nach dem Verschicken eines Faxes an die Faxnummer verändert sich die Ansage des Anschlusses. Es muss dort also einen Menschen geben. Telefon- und Faxnummer beginnen mit der Zahl 5. Die Hausverwaltung sagt: Im ganzen Haus gibt es keine Telefonnummer, die mit einer Fünf beginnt. Eine Deckadresse? Für wen? Viele offene Fragen.