Zweifel an der amtlichen Version

Warum konnten die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nicht wie sonst auf Hilfe »von oben« setzen? Warum sollte eine klemmende MPi der Grund sein, sich selbst zu erschießen, anstatt die anderen Waffen im Campingwagen zu benutzen?
Erstveröffentlicht: 
17.04.2013

Auffällig viele fragwürdige Spuren: Haben sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tatsächlich umgebracht? Warum stellt sich Beate Zschäpe nach dem Tod ihrer Neonazikumpanen den Behörden statt sich abzusetzen?

Von Wolf Wetzel

 

Wenn Hunderte von Akten im Zusammenhang mit dem NSU verschwinden, d.h. vernichtet werden, wenn »heißen Spuren«, die es über dreizehn Jahre gab, in keinem einzigen Fall nachgegangen wurde, wenn Behörden die Existenz von V-Leuten verschweigen, die Kontakt zu den abgetauchten Mitgliedern des »Thüringer Heimatschutzes« hatten, wenn bei allen neun Morden an Menschen mit türkischer und griechischer Abstammung ein rassistischer Hintergrund ausgeschlossen wurde, wenn all dies auf allen behördlichen Ebenen, in allen darin verwickelten Verfolgungsbehörden geschieht, dann darf man hinter diesen Unzulänglichkeiten, hinter dem »menschlichen Versagen« einzelner, ein System vermuten – zumindest sollte man dies – wie in jedem anderen Fall – nicht ausschließen.

Wenn dies aufgrund evidenter, erdrückender Fakten nicht auszuschließen ist, dann muß man auch den schlimmsten Fall für möglich halten bzw. darf ihn nicht von vornherein ausblenden. Dann stellt sich die Frage, ob die zwei Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, am 4. November 2011, in ihrem Campingwagen tatsächlich Selbstmord begangen haben? Dann muß man auch die offizielle Version, Beate Zschäpe habe sich nach vier Tagen Flucht »freiwillig gestellt«, in Zweifel ziehen.

Gibt es gute Gründe, warum zwar das Vertrauen in die Geheimdienste schwer erschüttert ist, aber gleichzeitig alle Erschütterten an der Selbstmordthese keinen einzigen Zweifel äußern? Die Selbstmordthese ist so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos verschwunden. »Hat der Neonazi Mundlos wirklich seinen Kumpel und dann sich selbst erschossen? Was, wenn alles ganz anders war?« Dieses kurze Aufblitzen journalistischer Sorgfaltspflicht tauchte in der Frankfurter Rundschau nicht auf den vorderen Politikseiten auf, sondern als letzter Satz, auf Seite 40, gut verpackt in einem Artikel über einen Krimi­autoren (FR vom 30.12.2011). Bekanntlich darf man in Feuilletons vieles sagen, was man im Politik- und Wirtschaftsteil derselben Zeitung nicht darf.

Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Eise­nach im November 2011 wird unisono als Selbstmord »kommuniziert«. Diese Version wird in allen Medien vertreten, obwohl dieselben Medien einräumen, daß sie sich jahrelang an der Nase herumführen ließen, daß sie jahrelang die Körner aufgepickt hatten, die ihnen die Ermittlungsbehörden vor die Füße warfen, daß sie als Medien mitgeholfen haben, falsche Fährten festzutreten. Allein die Tatsache, daß es für diesen Tathergang am 4. November 2011 zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt, müßte stutzig machen.

Die erste Version entstand kurz nach Böhnhardts und Mundlos’ Banküberfall vom 4. November 2011 in Eisenach und wird von der Thüringer Allgemeinen, die sich dabei auch auf Polizeiangaben stützte, so beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen Caravan, dessen Spur Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die Beamten näherten sich dem verdächtigen Caravan. Dann hörten sie »aus dem Innenraum zwei Knallgeräusche«. Kurz darauf brannte der Caravan lichterloh, und dann war alles vorbei.

Die zweite Version ist über zwei Monate jünger, ganz frisch und stammt von Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der SOKO in Thüringen, der ebenfalls mit seinen Beamten am selben Tatort war: Dieses Mal benutzten die Täter Fahrräder für ihren Banküberfall. Dieses Mal wurden diese ihr Verhängnis. Als die Beamten auf den Caravan stießen, wurden sie mit MPi-Salven empfangen: »Wir wußten, daß sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen«, sagt Menzel (Bild.de vom 26.11.2011). Dann soll die MPi geklemmt haben, worauf die Schützen sich selbst umbrachten.

Beide Versionen werden von Polizeibeamten erzählt. Welche Polizisten sind echt, welche Version ist echt? Aufgrund des Umstandes, daß beide Versionen in entscheidenden Punkten signifikant voneinander abweichen, sind nuancierte Wahrnehmungsunterschiede auszuschließen. Liegt zwischen der ersten und zweiten Version kein gestörtes Erinnerungsvermögen, sondern eine neue Aktenlage, die mit einem neuen Tathergang in Einklang gebracht werden sollte?

 

Inszenierter Selbstmord?

 

Abgesehen von den deutlich voneinander abweichenden Tathergängen wird als Motiv der schwer bewaffneten Neonazis ihre »aussichtslose Lage« angeführt. Was war daran aussichtslos? Wenn irgend jemand über 13 Jahre hinweg im »Untergrund« sicher war, dann war es der »Nationalsozialistische Untergrund«! Was war an dieser staatlich lizenzierten Erfolgsstory aussichtslos? Warum sollten oder konnten die Neonazis nicht auch dieses Mal auf Hilfe »von oben« setzen? Warum sollte eine klemmende Schußwaffe der Grund sein, sich selbst zu erschießen, anstatt die anderen Waffen zu benutzen, von denen sich zahlreiche im Campingwagen befanden?

Und wenn die Lage am 4. November 2011 für Böhnhardt und Mundlos ausnahmsweise aussichtslos war: Warum bringen sich Neonazis um, verbrennen gleichzeitig sich und den Campingwagen? Wer hat Beate Zschäpe informiert, die wenig später auch ihre gemeinsame Wohnung in Brand setzte? Welchen Grund sollte sie gehabt haben, sich den Behörden zu stellen, wo sie vier Tage Zeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen?

Das In-Brand-Setzen des Wohnmobils, das Abbrennen des Basislagers/Hauses in Zwickau macht nur Sinn, wenn jemand nicht an den Tod denkt, sondern an die Zeit danach. An Spuren, die über die Toten hinausweisen könnten. Menschen, die sich in aussichtsloser Lage umbringen, kümmern sich nicht um verräterische Spuren. Um die Beseitigung belastender Spuren sorgen sich in aller Regel Lebende!

Der Brand des Hauses in Zwickau, das In-Brand-Stecken des Wohnwagens, in dem sie sich umgebracht haben sollen, läßt andere Motive viel plausibler erscheinen. Wurde hier etwa ein Selbstmord inszeniert, der vor allem der Beseitigung von Spuren diente, an die Aussichtslose keine Sekunde denken würden? Warum wird nicht der Möglichkeit nachgegangen, daß sich die beiden NSU-Mitglieder nicht freiwillig das Leben nahmen? Gibt es einen Grund, einen anderen Verlauf der tödlichen Ereignisse für möglich zu halten?

Niemand bestreitet, daß der Mordanschlag auf zwei Polizisten, die in ihrem Streifenwagen in Heilbronn 2006 ermordet bzw. schwer verletzt wurden, aus der rassistischen Mordserie heraussticht. Dementsprechend wild und verwirrend sind die Indizien, die diesen Mordanschlag erklären sollen. Hatten die beiden Polizisten etwas mit Ku-Klux-Klan-Verbindungen zu tun? War es eine private Abrechnung? In den Vordergrund wurde immer wieder die dümmste aller Mutmaßungen geschoben: Der Mordanschlag hätte dazu gedient, an die Dienstwaffen der Beamten zu kommen. Wenn man weiß, daß der NSU mehr als genug Waffen hatte, dann darf man diese gestreute Mutmaßung ganz als gezielte Desinformation werten. Es wird also viel spekuliert, es werden viele falsche Spuren gelegt, so viele, daß man am Ende den Überblick verliert und vor lauter Schwindel aufgibt. Daran haben sicherlich viele Interesse.

 

Konflikt zwischen Polizei und VS?

 

Lassen wir die Motive einmal beiseite und gehen davon aus, daß die NSU-Mitglieder nie wirklich im Untergrund waren, sondern sowohl von Polizei als auch von den Geheimdiensten »begleitet« wurden – mit all den unterschiedlichen Gründen, sie zu schützen bzw. mögliche Festnahmen zu unterbinden. Spätestens mit dem Mord auf der Polizistin Michèle Kiesewetter 2006 und der schweren Verletzung ihres Kollegen war diese Allianz aus Verschweigen und Stillhalten, aus Kooperation und Konkurrenz unterschiedlicher Dienststellen vorbei. Spätestens mit dem Mordanschlag auf zwei Beamte dürfte der Burgfrieden zwischen Polizei- und Geheimdienststellen zerbrochen sein. Denn wenn Polizeikollegen »geopfert‹« werden, weil die Kollegen vom Verfassungsschutz »höhere« Interessen geltend machen, hört der Spaß bzw. die Duldsamkeit in höheren Polizeidienststellen auf. Spätestens dann fängt der ansonsten eingehaltene Dienstweg, die Hierarchie der Dienstanweisungen, an, holperig zu werden.


Gehen wir also von einem jetzt offen zutage getretenen Konflikt zwischen Innenministerien, Verfassungsschutzämtern und Polizei­dienststellen aus, dann finden sich auch Antworten auf Fragen, die tunlichst nicht gestellt werden: Warum endete mit dem Mordanschlag auf die Polizisten die rassistische Mordserie des NSU? Warum hielten die Mitglieder des NSU über vier Jahre die Füße still? War es nicht im höchsten Interesse derer, die den Kontakt zum NSU nie verloren hatten, daß dieser nie mehr in Erscheinung tritt, daß unter allen Umständen verhindert werden mußte, daß die Existenz eines »Nationalsozialistischen Untergrundes« öffentlich wird? Hatten die Mitglieder des NSU mit dem Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011 eine »imaginäre« Grenze überschritten?

Wer diese Fragen für begründet hält, wer die bislang veröffentlichten Fakten auf verschiedene Annahmen verteilt, wird viele Fakten auch folgendem Tatablauf zuordnen können: Mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2006 wuchs der Ermittlungsdruck gewaltig. Die damit befaßten Polizeidienststellen waren bereit, jetzt alles zu unternehmen, um den Mordanschlag aufzuklären, und die Verfassungsschutzämter mußten befürchten, daß die Ermittlungen nicht nur zum NSU, sondern auch zu ihnen selbst führen könnten. Um genau dies zu verhindern, mußte dem NSU signalisiert werden, daß er verschwinden muß, daß nichts mehr passieren darf, was auf seine verleugnete Existenz verweisen könnte. Um diese »Botschaft« zu transportieren, bediente man sich der zahlreichen V-Leute im Umfeld des NSU. Tatsache ist, daß das Bekennervideo, das die Mordserie in Verbindung mit dem NSU bringen sollte, nicht verbreitet wurde. Tatsache ist auch, daß es zu keinen weiteren rassistischen Mordanschlägen kam. Sogar die Banküberfälle wurden eingestellt. Anstatt sich jedoch ins Ausland abzusetzen, trafen sie 2011 den Entschluß, eine weitere Bank zu überfallen. Damit überschritten sie im wahrsten Sinne des Wortes die »Deadline«.

 

Zschäpe vier Tage allein?

 

Wenn man diesen Tatverlauf ebenfalls für möglich hält, dann dürfte die Nachricht vom Tod der beiden »Kameraden« für Beate Zschäpe ein Schock gewesen sein. Sie mußte um ihr Leben fürchten. Um zu verhindern, daß ihr Ähnliches geschieht, tat sie etwas scheinbar Irrsinniges. Sie packte die NSU-Videos ein und verschickte sie an Adressen, wo sie sicher sein konnte, daß damit die Existenz des NSU nicht mehr zu leugnen war. Was auf den ersten Blick wie eine Selbstanzeige wirkt, war für sie in ihrer Situa­tion eine Art Lebensversicherung.

Der Berliner Kurier vom 29. Mai 2012 rekonstruiert die Ereignisse, kurz nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt: »Etwas mehr als [eine?] Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in die Luft jagte, versuchte jemand, Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen – und vor allem warum?« Das sächsische Innenministerium reagierte auf diese Indiskretion hektisch: Man habe nach dem Brand nach der Person gesucht, die die Wohnung angemeldet habe, um die Wohnungseigentümerin über die Ereignisse zu informieren. Es hätte sich bei den Anrufen also um ganz normale Ermittlungstätigkeiten von Polizeidienststellen gehandelt, die mit der Brandaufklärung zu tun hatten. Warum waren dann aber die Diensthandys nicht mehr erreichbar, nachdem die Handynummern in die Öffentlichkeit gelangten und Journalisten versuchten, diese Version zu überprüfen? Woher hatte die Polizeidienststelle die Handynummer von Beate Zschäpe, die mit Sicherheit ein Handy benutzt hatte, das weder auf ihren Namen noch auf den Namen der Wohnungsanmieterin registriert war? Fakt ist jedenfalls, daß auch V-Leute von den jeweiligen Dienststellen Handys bekommen, um sie so auch an der elektronischen Leine führen zu können.

Doch es gibt noch einen anderen Beleg dafür, daß die Verfolgungsbehörden auf dem laufenden blieben, was Beate Zschäpes Flucht anbelangt. Am 4. November 2011, kurz nach dem In-Brand-Setzen der Wohnung in Zwickau, wurde sie nicht nur von einer »Polizeidienststelle« angerufen. Sie hatte auch telefonischen Kontakt mit André E. Um 15.29 Uhr sprachen sie eine Minute und 27 Sekunden miteinander, dann tippte André E. eine SMS an seine Frau Susann. André E. zählt zu den führenden Neonazikadern, eine Schlüsselfigur in der sächsischen Neonaziszene. Er ist Mitbegründer der »Weißen Bruderschaft Erzgebirge«. Seine Ehefrau Susann E. stand ihrem Mann an neonazistischer Tatkraft in nichts nach. André E. war der Polizei und den Verfassungsschutzbehörden seit langem bekannt.

Aus einem Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes geht hervor, daß die Behörde im März 2003 ein »Informationsgespräch« mit ­André E. geführt habe, was nur mühsam umschreibt, daß er als V-Mann angeworben werden sollte. Angeblich habe er abgelehnt, da er keinen Kontakt mehr zu neonazistischen Szene habe. Das wußten die Anwerber besser: Noch im November 2006 gingen Verfassungsschutzämter davon aus, daß er eine »herausgehobene Posi­tion« (Spiegel online vom 10.12.2012) innehabe. Stand der Ermittlungen ist, daß das Ehepaar E. dem NSU sowohl im Untergrund als auch bei Anschlägen geholfen hat. So besorgte André E. im Mai 2009 für Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Bahncards, welche auf seinen und den Namen seiner Frau ausgestellt waren. Jenseits der Frage, ob die fehlgeschlagene Anwerbung des Neonazis André E. eine Legende ist, kann man festhalten, daß ihre Überwachung direkt zu den Mitgliedern des NSU geführt hatte/hätte. Wie eng, wie vertrauensvoll der Kontakt zwischen den NSU-Mitgliedern und André E. war, beweist auch das Telefonat, das Beate Zschäpe kurz nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt geführt hat.

Auf welche Weise also die Verfolgungsbehörden über André E. an den NSU angeschlossen waren, könnte zweifelsfrei die Auswertung des Handys ergeben, das bei seiner Festnahme am 24. November 2011 beschlagnahmt worden ist. Das Handy wurde zur Auswertung ans BKA geschickt. Obwohl der interne Speicher gelöscht war, konnte das BKA die gelöschten Datensätze wiederherstellen. Doch nun passierte das, was schon in vielen Fällen zuvor der Fall war: Die Rekonstruktion weist auffällige Lücken auf, die man technisch am allerwenigsten erklären kann: »So tauchen etwa Telefonverbindungen erst ab dem Datum 8. November 2011 wieder auf; bei den SMS reicht die Lücke vom 6. November bis zum 14. November 2011« (FR vom 28.1.2013).

 

Handydaten gelöscht

 

Um ganz sicher zu gehen, daß nichts gefunden wird, was nicht gefunden werden soll, wies das BKA die zuständige Bundespolizeidienststelle an, die Sicherungskopie zu löschen. Kein Versehen, sondern eine Anweisung, gegen die üblichen Dienstvorschriften zu verstoßen: »Diese Anweisung habe der üblichen Vorgehensweisen widersprochen, wie der Bundespolizeidirektor Heinz-Dieter Meier in seiner Vernehmung (…) sagte (…): ›Wenn Handys ausgewertet werden, sieht das Standardverfahren vor, daß die Daten archiviert werden‹, sagte Meier laut Aussageprotokoll vom 23. Februar 2012« (ebd.). Für den Vorsatz der Verschleierung statt Aufklärung hat der Bundespolizeidirektor eine professionelle Erklärung: »Er deutete an, daß das BKA mit seinem Vorgehen möglicherweise einen Informanten decken wollte, auf den E.’s Handydaten hinweisen könnten« (ebd.).

Markant an den Lücken ist, daß sie einen ganz wichtigen Zeitraum umfassen: Von Beate Zschäpes Flucht bis zu dem Tag, als sie sich den Behörden gestellt hatte! Warum soll unter allen Umständen alles vernichtet werden, was die Zeit zwischen dem 4. und 8. November 2011 aufhellen könnte? Geht man also von der offiziellen Ver­sion aus, die Verfolgungsbehörden hätten keinen Kontakt zu den NSU-Mitgliedern gehabt, dann sind vier Tage sehr viel Zeit, um abzutauchen. Warum hat Beate Zschäpe diese Zeit nicht dazu genutzt? Warum hat sie die zahlreichen Verbindungen ins Ausland nicht verwendet, um sich abzusetzen? Warum fühlte sich Beate Zschäpe ab dem 4. November 2011 nicht mehr sicher, wo sie doch die Erfahrung gemacht hatte, daß man in Deutschland selbst nach neun rassistisch motivierten Morden »sicher« in Zwickau wohnen konnte?

Zweifellos könnten die Telefondaten, die Verbindungsdaten von André E. eine Antwort darauf geben. Würden sie belegen, daß die Verfolgungsbehörden keine Spur zu Beate Zschäpe hatten, wären sie heute noch existent. Daß sie gelöscht wurden, daß man die Sicherungskopie ebenfalls beseitigte, berechtigt zu der Annahme, daß alles stimmt – nur nicht die offizielle Version.

Die Vernichtung der Handydaten, die Anweisung des BKA, auch die Sicherungskopie verschwinden zu lassen, kann man als gründliche Arbeit verstehen – fast. Wenn es welchen Aufklärern auch immer wirklich um Aufklärung und nicht um koordinierte Vertuschung ginge, wäre dieser Fall von Vernichtung von Beweismitteln nicht das Ende gewesen: Denn die Verbindungsdaten werden nicht nur auf dem Handy gespeichert, sondern auch beim Pro­vider! Wenn es wirklich um Aufklärung ginge, wäre der nächste Schritt ein ganz einfacher gewesen: Man hätte alle notwendigen Daten beim Provider abrufen können: Im September 2011 löste die Berliner Zeitung einigen Wirbel aus, nachdem sie veröffentlicht hatte, daß »große Anbieter wie T-Mobile, Vodafone und E-Plus (…) mindestens einen, ­maximal sechs Monate lang (speichern), welcher Mobilfunkkunde wann aus welcher Funkzelle wie lange mit wem telefoniert hat« (6.9.2011).

Was Datenschützer als klaren Verstoß kritisierten, verstanden alle Anbieter als »eine seit langem gängige Praxis«, an der sie auch nichts ändern wollten. Es gab also noch genug Zeit, an die Verbindungsdaten zu kommen! Warum wurde dieser Schritt nicht unternommen? Warum beteiligen sich auch »Aufklärer« an der Vertuschung? Wurde Beate Zschäpe über ­André E. signalisiert, daß sie keine Chance habe zu fliehen? Welche Kontakte zur Polizei, zu Verfassungsschutzbehörden hatte André E., um einen Deal einzufädeln? Wer von höchster Stelle die Beseitigung von Beweismitteln anordnet, die auf diese Fragen Auskunft geben könnten, räumt diese Möglichkeit nicht aus, sondern läßt sie als wahrscheinlich erscheinen. Für Beate Zschäpe ging es darum, ihr Leben zu retten, für die involvierten Verfassungsschutzämter ging es darum, mit ihr einen Deal zu machen, der ihre »Gewährungsleistungen« bzw. »Führungsrolle« vertuscht. Nachdem dieser Deal unter Dach und Fach war, stellte sich Beate Zschäpe »freiwillig«.

Daß dieser oder ein anderer Ablauf der Ereignisse – noch – nicht bewiesen werden kann, liegt nicht an den Kritikern, sondern an jenen, die seit 2011 vor allem mit einem beschäftigt sind: mit der Vernichtung von Beweisen, die der offiziellen Version den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

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