»Netzwerk des NSU war größer als angenommen« (Zeit)
»Neonazi-Trio hatte 129 Helfer und Helfershelfer« (Bild)
Mit dieser scheinbaren Sensation warten auflagestarke Medien im März 2013 auf. Nicht minder erstaunlich ist, dass sich auch der in Berlin tagende NSU-Ausschuss bestürzt zeigt.
»Insgesamt 129 Mitglieder der rechtsextremen Szene sollen die Terrorgruppe NSU unterstützt haben. Die neue Namenliste wird nun auf unentdeckte V-Leute untersucht. Das Netzwerk der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle war Medienberichten zufolge deutlich größer als bisher angenommen. 129 Mitglieder der rechtsextremen Szene gehörten zum engeren und weiteren Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), meldete die Bild am Sonntag. Die Namen stehen auf einer geheimen Liste der Sicherheitsbehörden, die dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags nun zuging. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy, bestätigte das dem ARD-Hauptstadtstudio. Die neue Zahl sei ›erschreckend hoch‹, sagte Edathy der Bild am Sonntag. Nun müsse ›schnell geklärt werden, ob es darunter Mitwisser der NSU-Verbrechen und weitere V-Leute gab‹. Der Ausschuss hat demnach vor einigen Tagen beschlossen, dass die Bundes- und Landesregierungen die neue Namensliste auf bisher unentdeckte V-Leute des Verfassungsschutzes überprüfen sollen.« (Zeit.de vom 24.3.2013)
Eins ums andere Mal erschrecken einen nicht nur die organisierten Vertuschungen, sondern auch jene, die mit der Aufklärung betraut sind: Der NSU-Ausschuss in Berlin weiß seit Monaten, dass die Verfolgungsbehörden bereits seit 1998 im Besitz einer Adress- und Telefonliste sind, die über 50 Neonazis enthält, das Who is Who der bundesdeutschen Neonaziszene. Es ist ebenfalls längst bekannt, dass viele der dort aufgeführten Neonazis den Untergrund des NSU mit organisiert haben, dass sie Waffen, Unterkünfte und falsche Papiere besorgt haben und dass man sicher davon ausgehen kann, dass sie auch bei der Vorbereitung und/oder Durchführung von Terror- und Mordanschläge beteiligt waren. Es zeugt schon von ungeheurer Ahnungslosigkeit, wenn der NSU-Ausschuss nun nachfragt, ob sich unter den Neonazis, die den NSU erst möglich gemacht haben, auch V-Leute, also vom Staat finanzierte Neonazikader waren. Obwohl bis heute die komplette Liste geheim gehalten wird, ist bekannt, dass sich auf der Liste mindestens auch vier V-Leute befinden. Es ist seit langen bekannt, dass der ›Untergrund‹ des NSU nicht nur durch Neonazis angelegt worden waren, sondern auch von V-Leuten, die von der Polizei und den Geheimdiensten geführt wurden. Wovor will sich eigentlich der NSU-Ausschuss schützen?
Im Folgenden ein Auszug aus dem Buch: ›Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund/NSU – wo hört der Staat auf? Wolf Wetzel, Unrast Verlag 2013
Er belegt, dass die Verfolgungsbehörden von Anfang an den Kontakt zu den späteren NSU-Mitgliedern nie verloren hatten und dass sie mit mindestens vier V-Männern ›am Küchentisch‹ des NSU saßen:
»Kurz bevor die ehemaligen Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes/THS abtauchten, wurden am 26. Januar 1998 bei der Durchsuchung einer Garage in Jena, die Beate Zschäpe angemietet hatte, über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmt. An dieser Durchsuchung nahmen erstaulich viele Behörden teil: Die Thüringer Polizei, Zielfahnder des LKA Thüringen, Beamte des Thüringer Verfassungsschutzes und zwei Beamte des BKA. Die späteren Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU konnten fliehen. So wurde dieses Ereignis offiziell kommuniziert.
Vierzehn Jahre später erfahren wir, dass das bei Weitem nicht alles war: Es wurde auch eine Namensliste gefunden, »ein ›Who is Who‹ mutmaßlicher Unterstützer des rechtsextremen Terrortrios ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) … Vielfach handelt es sich um Personen, die heute beschuldigt werden, Hilfsdienste für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe geleistet zu haben. So ist der Name von Rolf Wohlleben handschriftlich in das Verzeichnis gekritzelt – der einstige NPD-Funktionär aus Jena sitzt derzeit in Untersuchungshaft, weil er verdächtigt wird, eine Schusswaffe für das Terror-Trio besorgt zu haben.« (SZ vom 13.7.2012).
Auf dieser Telefon- und Adressenliste befanden sich weitaus mehr Namen, als die Süddeutsche Zeitung veröffentlichen wollte: Auf ihr befand sich auch Kai Dalek »Kai D. hatte nach vorliegenden Informationen in den 90er Jahren entscheidenden Anteil am Aufbau gewalttätiger Anti-Antifa-Strukturen in Franken. Er war an zentraler Stelle für das Thule-Netz verantwortlich, mit dem Neonazis erstmals eine computergestützte klandestine Kommunikation betrieben und er gilt als Organisator bundesweiter rechter Aktivitäten, wie bspw. der jährlichen Rudolf-Hess-Aufmärsche.« (Neonaziszene in den 90er Jahren dank Spitzeln vernetzt und aktionsfähig, Die Linke Thüringen vom 12.10.2012) Auch Matthias Fischer, Anführer des neonazistischen bayrischen Kameradschafts-Verbandes ›Freies Netz Süd‹ befand sich auf der Liste. Fischer kommt aus Nürnberg. Zwischen 2000 und 2005 wurden in Bayern drei Migranten regelrecht hinrichtet. Weiterhin befand sich Mike T. auf dieser Liste: »Laut einem Vermerk des Bundeskriminalamts vom 14. Mai 2012 findet sich T.’s Name auf einer der von Mundlos erstellen Telefon- und Adresslisten… T. stammte aus Jena in Thüringen und war Mitte der neunziger Jahre zu einer großen Nummer im rechtsextremen Milieu Nürnbergs aufgestiegen, bevor er in die Drogenkriminalität abrutschte.« (Spiegel-online vom 1.3.2013)
Doch damit nicht genug: Auf dieser Telefonliste standen nicht nur führende Neonazi-Kader. Auf ihr standen mindestens auch vier Neonazis, die zugleich V-Männern der Polizei bzw. des Verfassungsschutzes waren: Kai-Uwe Trinkaus (Deckname Ares), Thomas Starke, Thomas Richter (Deckname ›Corelli‹) und Kai Dalek. (…) Die Adressen- und Telefonliste umfasst mehr als 30 Personen. Neben den namentlich bekannten Neonazis finden sich dort auch »Telefonnummern in Chemnitz, Jena, Halle, Rostock, Nürnberg, Straubing, Regensburg – und auch vier Nummern von drei Personen in Ludwigsburg« (Thomas Moser, kontextwochenzeitung.de vom 28.2.2013). Man kann dem NSU-Ausschussmitglied Clemens Binninger nur zustimmen, wenn er diese »wie eine Landkarte der späteren Tat- und Fluchtorte« (s.o.) beschreibt. (…)
Welche Brisanz diese ›Garagenliste‹ hat, macht der 1001. Skandal deutlich: Am 28. Februar 2013 machte der NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin öffentlich, dass das Bundeskriminalamt/BKA im Besitz einer weiteren Adressliste ist: »Zum Beispiel taucht darauf nach Informationen von Spiegel Online erstmals eine Telefonnummer aus Fürth bei Nürnberg auf. In Nürnberg verübte der NSU drei Morde. Neu ist zudem eine Handy-Nummer, die von dem langjährigen V-Mann Thomas D. genutzt wurde, und eine Nummer aus Arnstadt, wo der NSU eine Bank ausraubte. Insgesamt wurden mehr als zehn neue Kontakte notiert, vorwiegend aus dem Raum Chemnitz. Es handelt sich also nicht um völlig verschiedene Listen. Vielmehr ist die zweite eine Fortsetzung der ersten.« (FR vom 1.3.2013) Obwohl der Untersuchungsausschuss alle Unterlagen vom BKA angefordert hatte, wurde diese zweite ›Garagenliste‹ über ein Jahr dem Untersuchungsausschuss vorenthalten – was nichts anders heißt, als die Unterschlagung von Beweismitteln.
Nimmt man erste Adressliste und den nun aufgetauchten zweiten Teil der ›Garagenliste‹ zusammen, waren auf ihr über 50 Neonazis notiert, das gesamte neonazistische Netzwerk, das die abgetauchten THS-Mitglieder in den folgenden 13 Jahren genutzt, kontaktiert und in terroristische Aktionen eingebunden hatten. (…)« Die Polizei, der Verfassungsschutz tappten keine 13 Jahre im Dunklen – sie saßen quasi am Küchentisch des NSU. Das entging nicht einmal dem Feuilletonchef der FAZ, Nils Minkmar: »Sie tauchten nicht besonders tief. Es war mehr so ein Schnorcheln, ein Untertauchen in der Badewanne…« (FAZ vom 20.11.2011)
Die Frage ist also nicht, wie man die untergetauchten NSU-Mitglieder hätte finden können, sondern, wer sie so lange beschützt hat!«
Der publizistische Versuch, jetzt erst das Ausmaß neonazistischen Terrors begreifen zu wollen, ist nicht Teil der Aufklärung, sondern Teil der fortgesetzten Verschleierung.
Wolf Wetzel 24.3.2013