Antifaschistischer Widerstand & die Zukunft der Erinnerungskultur

80 Jahre Antifa

Mit einer Veranstaltungsreihe im März und April 2013 setzen wir uns mit dem historischen antifaschistischen Widerstand auseinander. Während wir in zurückliegenden Jahren biographische Linien, internationale Perspektiven und regional-historische Forschungen in den jeweiligen Mittelpunkt unserer Initiativen gestellt haben, wollen wir in diesem Jahr den Schwerpunkt darauf legen, Fragestellungen der Erinnerungskultur am Scheidepunkt der Geschichte zu diskutieren.

 

Zur Verdeutlichung geschichtlicher Zusammenhänge wird vielfach mit runden historischen Daten gearbeitet. Im Jahr 2013 ist es 80 Jahre her, dass den deutschen Faschisten die Macht übertragen wurde. Innerhalb weniger Monate sicherten sich die Nazis ihre Position durch offenen Terror vor allem gegen KommunistInnen, GewerkschafterInnen und SozialdemokratInnen. Auch in Göttingen wurden von März bis August 1933 mindesten 80 AntifaschistInnen in sog. polizeiliche Schutzhaft genommen, einige von ihnen wurden später in Konzentrationslager verschleppt. Sie hatten öffentlich vor den Nazis gewarnt, Veranstaltungen und Demonstrationen organisiert, im Stadtrat gegen die NSDAP gearbeitet oder zugeschlagen, wann immer die Faschisten einen Fuß auf den Boden setzen wollten. Jetzt waren sie ihren hasserfüllten Feinden ausgeliefert. Nicht alle ließen sich von den Gewaltandrohungen abschrecken. Einige organisierten auch weiterhin den antifaschistischen Widerstand. Heute lebt von ihnen niemand mehr. Das Wissen um ihr Wirken - das Wissen um die Geschichte des regionalen antifaschistischen Widerstands -  müssen sich heutige Generationen neu erarbeiten.

Jene Menschen, Opfer der Nazis wie antifaschistische WiderstandskämpferInnen, die durch eigenes Erleben den deutschen Faschismus und den Zweiten Weltkrieg erfahren haben, nehmen bis heute eine wichtige Rolle in der politischen Kultur ein. Die Begegnung mit ihnen hat viele Menschen tief beeindruckt und zu nachhaltigem Engagement gegen Neofaschismus und Krieg angetrieben. In vielen gesellschaftlichen Fragestellungen, die weit über die Gestaltung von Gedenkstätten hinausgehen, haben sie moralisches Gewicht in der öffentlichen Diskussion. Doch aufgrund ihres hohen Alters können diese ZeitzeugInnen ihre wichtige gesellschaftliche Rolle immer weniger einnehmen. Es ist absehbar, dass innerhalb weniger Jahre niemand mehr auftreten wird, der selber den Faschismus bewusst erlebt hat. Den sich daraus ergebenden Fragestellungen widmet sich unsere Veranstaltungsreihe.

Dabei stellen wir den historischen antifaschistischen Widerstand ins Zentrum unseres Interesses. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wir selber begreifen uns in der Gegenwart im Widerstand gegen die Gefahren des Neofaschismus und gegenüber den gesellschaftlichen Umständen, die autoritäre, menschenfeindliche und kriegstreiberische Tendenzen begünstigen. Es ist unser tiefstes Interesse, von den Erfahrungen jener Menschen zu lernen, die sich in dunkelster Ausweglosigkeit und höchster Gefahr zum Handeln gegen die „deutsche Volksgemeinschaft“, gegen industriellen Massenmord sowie Raub- und Vernichtungskrieg entschieden haben. „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN“ (Kurt Tucholsky). Es geht uns um Würde und den aufrechten Gang, aber auch darum, Widersprüche auszuhalten sowie von den Organisations- und Kampferfahrungen im antifaschistischen Widerstand zu lernen. Dafür sind die letzten lebenden ZeugInnen dieses Widerstands unendlich wertvoll.

Mit einem Standpunkt des antifaschistischen Widerstands befinden wir uns auch heute innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft in einer Minderheitenposition. Der deutsche Faschismus hat gründliche Arbeit geleistet: Vielfach sind die Traditionslinien der linken ArbeiterInnenbewegung in den Konzentrationslagern abgerissen. In anderen Ländern wurden Faschismus und Besatzung durch mutigen antifaschistischen Widerstand und PartisanInnen bekämpft und teilweise aus eigener Kraft besiegt. In Deutschland hingegen gibt es fast keine derartigen Bezüge. Die Nazis mussten von den alliierten Armeen niedergekämpft werden, die Gesellschaft von außen vom Faschismus befreit werden. Einer der wenigen positiven Anknüpfungspunkte wie die Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ-Buchenwald am 11.4.1945 wurde in der DDR in den Vordergrund gestellt. In der BRD herrschten bald wieder die alten Nazi-Eliten. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Kontinuitäten fehlt es in Deutschland bis heute an Mitleid mit den Opfern faschistischer Gewalt. Zelebriert wird hingegen das Selbstmitleid der eigenen vermeintlichen Opfer, wie bspw. der „Bombennächte“. Selbstgefällig werden historische Zusammenhänge von Ursache und Wirkung ausgeblendet und historische Lehren aus dem deutschen Faschismus umgedeutet. Während medial um den 2.2.2013, dem 70. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über die faschistische Wehrmacht in Stalingrad, weinerlich über die „armen deutschen Soldaten“ berichtet wurde, feuert eine große Koalition zeitgleich für eine Bundeswehrbeteiligung am neuesten Krieg im Westen Afrikas an. Antifaschistischer Widerstand ist vor diesem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund in Deutschland für viele undenkbar. Antifaschistischer Widerstand ist für den Staat mit seinen Polizeien und Geheimdiensten auch heute eine feindliche Handlung. Für uns ist antifaschistischer Widerstand unser Standpunkt einer Minimalposition; antifaschistischer Widerstand ist in Deutschland das Vorzeichen für gesellschaftliche Interventionen der Linken.

Deutlich ist allerdings, dass sich hieran innerhalb der nächsten 5 bis 10 Jahre Grundsätzliches ändern wird. In dem Maße, wie die ZeitzeugInnen nicht mehr in der Lage sein werden, öffentlich ihre Stimme zu erheben, werden sich gesellschaftliche Diskurse zu unseren Ungunsten verschieben. Neuen Generationen wird ohne personelle Beziehungen zur Geschichte die Tiefe der Auseinandersetzung abhanden kommen. Welchen Stellenwert werden die Geschichte des deutschen Faschismus, des Zweiten Weltkriegs und der Möglichkeit des antifaschistischen Widerstands dann noch haben?

Alle,  denen es ein Anliegen ist, die Leiden der Opfergruppen und die Lehren der WiderstandskämpferInnen zukünftigen Generationen nahe zu bringen, sind vor die Aufgabe gestellt, Formen und Wege der Vermittlung zu suchen. Innerhalb dieser Diskussionen um Erinnerungskultur am Scheidepunkt der Geschichte soll unsere Veranstaltungsreihe ein Beitrag sein. Dabei sollen die Veranstaltungen nicht nur Gedankenaustausch und gesprochenes Wort, sondern bereits praktische Beiträge für eine Fortführung oder Weiterentwicklung dieser antifaschistischen Erinnerungskultur sein.

 

Zum Beispiel:

Begegnung mit den letzten lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen

In diesen Jahren bieten sich die wahrscheinlich letzten Gelegenheiten der Begegnung mit den ZeitzeugInnen des historischen antifaschistischen Widerstands. Unsere Bemühungen sollten daher darauf abzielen, diese Chancen nicht verstreichen zu lassen, sondern Treffen und Veranstaltungen gezielt zu organisieren oder zu besuchen. Viele Überlebende des Faschismus geben ihr politisches Erbe innerhalb ihrer Familien – an ihre Kinder oder Enkelkinder – weiter. Doch das Vermächtnis der antifaschistischen WiderstandskämpferInnen könnte ebenso durch all jene weitergetragen werden, die zukünftigen Generationen von ihren Begegnungen mit den ZeitzeugInnen berichten; als ZeugInnen der ZeitzeugInnen.  

Hervorragende Arbeit leistet hierbei das italienische Geschichtsinstitut Istoreco in Reggio-Emilia (Norditalien). Bereits zum zweiten Mal lädt das Istoreco gemeinsam mit dem italienischen PartisanInnenverband A.N.P.I. zur European Resistance Assembly (ERA) vom 26. bis 28. April 2013 nach Norditalien ein. Hier kommen ehemalige KämpferInnen gegen den Faschismus aus verschiedenen europäischen Ländern mit jüngeren Generationen zusammen, um von ihren Erfahrungen zu berichten und Fragen der Gegenwart zu diskutieren.

Am ERA-Treffen nahm im Jahr 2012 auch Lorenz Knorr (Videointerview und biographische Informationen) teil. Der Journalist und Antifaschist lebte vor dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in Eger (heute Cheb in der Tschechischen Republik). Er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der CSSR und beteiligte sich während der deutschen Besatzung am antifaschistischen Widerstand. Auch nach seiner Einberufung zur Wehrmacht fand er in Nordafrika und Polen Möglichkeiten zu Sabotage und zum Widerstand. Heute lebt Lorenz Knorr in Frankfurt am Main. Er weiß fachkundig historische Zusammenhänge darzustellen, insbesondere auch zur Frage der sog. Sudetendeutschen. Vor allem aber ist Lorenz Knorr ein beeindruckender Mensch, der über Ängste, Mut, Gewissen, Widersprüche und Gefahren im antifaschistischen Widerstand berichten kann. Seit 15 Jahren hält Lorenz Knorr Vorträge an Schulen und sucht das Gespräch mit jungen Menschen. Lorenz Knorr ist heute 91 Jahre alt. Am Mittwoch, den 13. März 2013 kommt Lorenz Knorr auf Einladung des Vereins zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V. nach Göttingen und wird vormittags mit Schülerinnen und Schülern diskutieren. Bei einer Abendveranstaltung im Roten Zentrum wird Lorenz Knorr der Öffentlichkeit von seinem Leben berichten.

Zum Beispiel:

Authentische Orte der Erinnerung und des Gedenkens gestalten

Die ehemaligen Konzentrationslager der Nazis sind wichtige Orte der Geschichtsvermittlung. Hier manifestiert sich die grausame Praxis von Entrechtung und Vernichtung im deutschen Faschismus. Ob und wie derartige authentische Orte der Erinnerung betrieben und gestaltet werden, ist aber seit jeher umkämpftes Terrain. Einige der umstrittensten Orte der Erinnerung sind dabei die ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR: Ravensbrück, Sachsenhausen und Buchenwald. Nach 1990 wurden diese teils verkommen lassen, teils sollten wirtschaftliche Umnutzungen stattfinden. In allen Fällen wird die Geschichte von Tätern und Opfern im deutschen Faschismus im Sinne der Totalitarismusdoktrin umgeschrieben. Dem entgegen steht der erklärte Wille der ehemaligen antifaschistischen WiderstandskämpferInnen: Am 11. April 1945 befreiten sich die Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald selber. Ein Teil des SS-Wachpersonals war bereits vor der heranrückenden US-Army geflohen, bewaffnete Häftlingsgruppen des geheimen Lagerwiderstands verhafteten die verbliebenen Wachmannschaften und übernahmen die Lagerverwaltung.

68 Jahre später findet am 14. April 2013 die Gedenkveranstaltung des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) statt. Die Veranstaltung zum Gedenken an die Befreiung des Lagers findet auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ statt. Hier traten nach ihrer Selbstbefreiung die ehemaligen Häftlinge an und legten den Schwur von Buchenwald ab.

Aus Göttingen wird ein Reisebus zur gemeinsamen Fahrt nach Buchenwald (bei Weimar) angeboten. Dort besteht die Möglichkeit, gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen und ihren Angehörigen, an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Die Göttinger Reisegruppe wird zudem von Dr. Ulrich Schneider (Kassel) über das Lagergelände geführt. Dr. Ulrich Schneider ist ehemaliger Gedenkstättenleiter und Generalsekretär der Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sowie Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA).

Auch in Göttingen finden aktuell Diskussionen um Formen der Erinnerungskultur und die Rolle von authentischen Orten statt. Angeregt durch die Initiative für eine Gedenktafel für den Kommunisten und Antifaschisten Gustav Kuhn an seinem ehemaligen Wohnort in der Petrosilienstraße entwickelte sich seit Mai 2012 eine konstruktive Diskussion um die Würdigung antifaschistischer WiderstandskämpferInnen im öffentlichen Stadtbild. Eine Arbeitsgruppe regionaler Widerstand beim Kulturausschuss der Stadt Göttingen hat sich seither dieser Fragestellung angenommen. Gemeinsames Anliegen des Gremiums ist es, den unerforschten Teil der Göttinger Widerstandsgeschichte aufzuarbeiten und Formen der Vermittlung für Gegenwart und Zukunft zu verwirklichen. Im Zentrum von Diskussionen steht das alte Stadthaus in der Gotmarstraße 8. Wo sich heute die Stadtbibliothek befindet, residierte im deutschen Faschismus u.a. die Polizei. Über 80 AntifaschistInnen wurden zwischen März bis August 1933 im Zuge der sog. Schutzhaftwelle in das Gebäude verschleppt und z.T. von hier weiter in das Konzentrationslager Moringen gebracht. Die zentrale und öffentliche Lage des Gebäudes mit seinen authentischen Kellern und Innenhöfen bietet sich für einen regionalen Erinnerungsort zum antifaschistischen Widerstand an. Uns ist dabei wichtig, dass Namen und Zusammenhänge benannt werden, damit historische Tatsachen nicht weiter hinter nichtssagenden Formulierungen verwischt werden.  

Zum Beispiel:

Medien für die Zukunft entwickeln

Dokumente von Opfern des Faschismus und antifaschistischen WiderstandskämpferInnen liegen vielfach vor. Viele ZeitzeugInnen haben ihre Erlebnisse in Romanen und Sachbüchern wiedergegeben. Auch Interviews wurden vielfach als Ton- und Filmbeiträge aufgezeichnet. Häufig sind diese Materialien aber unbearbeitet, d.h. sie liegen als Rohmaterialien in Archiven und müssen zeitaufwendig aufbereitet werden. Doch wer nimmt sich dieser Aufgabe an? Welches sind die Medien, die zukünftige Generationen nutzen werden? Wie werden sich ihre Seh- und Hörgewohnheiten entwickeln? Eine Antwort liefert das European Resistance Archive ERA: Die Internetplattform bietet Biographien, Hintergrundinformationen und Videos von KämpferInnen aus dem europäischen Widerstand gegen den Faschismus an.

Ein anderes Medium veröffentlichte im Januar diesen Jahres Bernd Langer: „"Haben wir alles richtig gemacht?"“ ist der Titel eines Interviews mit Paul Grünewald. Grünewald bildete gemeinsam mit Karl Peix (aus Bad Lauterberg im Harz) und Walter Krämer eine Widerstandsgruppe im Krankenrevier des KZs Buchenwald. Peix und Krämer wurden 1941 von der SS ermordet. Paul Grünewald überlebte, weil er bereits 1940 aus dem KZ entlassen worden war. Im Januar 1994 führte Bernd Langer (Autor und Publizist, Bad Lauterberg und Berlin) ein ausführliches Interview mit Paul Grünewald. Nachdenklich und selbstkritisch berichtet der antifaschistische Widerstandskämpfer darin von seinen Erfahrungen aus dem Lagerwiderstand in Buchenwald. Das Tondokument wurde für viele Jahre zur Seite gelegt, Paul Grünewald ist mittlerweile verstorben. Nun hat Bernd Langer das Interview technisch aufbereiten lassen und im Januar 2013 als Hör-CD herausgegeben. Während der Veranstaltung am 12. April 2013 in Göttingen stellt Bernd Langer Ausschnitte aus dem Interview vor und diskutiert mit uns Formen der Erinnerungskultur.

 

Zum Weiterlesen:

Wir setzen uns seit vielen Jahren mit verschiedenen Aspekten antifaschistischer Geschihtspolitik und Erinnerungskultur auseinander. Hier könnt ihr unsere Projekte und Diskussionen nachvollziehen.

 

 

Zur Geschichte des antifaschistischen Widerstands

Novemberrevolution 1918, Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920, Antifaschistische Aktion 1932, Widerstand und Selbstbefreiung im KZ-Buchenwald. Biographisches zu Karl Peix aus Bad Lauterberg im Harz. Faltblatt, 8 Seiten, A.L.I. im April 2010

Veranstaltungsberichte und mehr dazu hier.


 

 

Befreiung von Faschismus und Kolonialismus

Begleitheft zur Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“. Faltblatt, 12 Seiten, A.L.I. im  März 2011

Veranstaltungsberichte und mehr dazu hier




Zur Geschichte der Göttinger ArbeiterInnenbewegung. 80 Jahre Antifaschistische Aktion

Geschichtspolitik, Antifaschistische Aktion und regionaler Widerstand. 16-seitiges Heft, A.L.I im Juni/Juli 2012.

Veranstaltungsberichte und mehr dazu hier.



80 Jahre Antifaschistische Aktion

von Bernd Langer, hrsg. vom Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V.
Broschüre (6,5MB), 48 Seiten, Juli 2012