Die deutsche Rüstungsindustrie und der separatistische Terrorismus - Christof Wackernagel lebt seit neun Jahren in Malis Hauptstadt Bamako. In dem Artikel schildert er seine Eindrücke und seine politische Einschätzung der Lage. Zwanzig Jahre lang galt Mali weltweit als demokratisches Musterland Afrikas. Es gab zwar auch dort Wahlfälschungen und Korruption – was aber in den alle politischen Spektren abdeckenden Print- und Elektronikmedien angeprangert und diskutiert wurde. Und es gab eine messbare Tendenz der Veränderung zum Besseren – derartig tief und historisch verwurzelte Traditionen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen abschaffen, sondern erfordern langwierige gesellschaftliche Umstrukturierungsprozesse.
Eine Sonderrolle spielte in diesen Prozessen der im Norden Malis angesiedelte Volksstamm der Tuareg. Obschon seit Langem kulturell wie ökonomisch eng verknüpft mit den anderen dort ansässigen Ethnien wie den Songhrai, den Dogon oder den Bambara, forderten seit Anfang des letzten Jahrhunderts verschiedene politische Interessengruppen der Tuareg einen eigenen Staat. Sein Territorium sollte zwar auch Teile von Mauretanien, Algerien, Libyen und Niger einbeziehen, im Norden Malis aber sein Zentrum haben. Zum ersten Mal 1905 und zuletzt im Jahre 2009 hatte es deswegen sogar bewaffnete Auseinandersetzungen gegeben. Begründet mit nicht spezifizierter „Unterdrückung“, dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ oder „kultureller Autonomie“ und forciert von einer in der westlichen Welt geschickt taktierenden intellektuellen Lobby fanden diese Bestrebungen stets weltweit Aufmerksamkeit, Sympathie und Unterstützung(1). Ohne auf die weitaus komplizierteren und sich teilweise sogar gegenteilig darstellenden, seit Jahrhunderten existierenden ethnischen Hintergründe einzugehen, wurde in der Trivialliteratur genauso wie in linken Kreisen gerne von den „Indianern der Sahara“ geschwärmt, den „edlen Wüstenkriegern“, den „stolzen Verteidigern der Freiheit“. Ignoriert wurde dabei vor allem die von der afrikanischen Union – man kann in diesem Fall sogar wirklich sagen: den Afrikanern – am Ende der Kolonialzeit nach einem schmerzhaften Diskussionsprozess getroffene Entscheidung, die von den Kolonisatoren gezogenen, ungerechten und nicht mit den wahren ethnischen Verhältnissen übereinstimmenden Grenzen trotzdem in dieser Form zu belassen. Hintergedanke und Ziel war dabei die Einigung Afrikas und nicht seine weitere Zersplitterung; es ging bei dieser Entscheidung in erster Linie um die Vermeidung neuer Anlässe für Grenzkriege, Mord und Totschlag.
Umso fataler sind und waren die internationalen Bestrebungen, die politisch unverantwortliche und für Afrikas Zusammenhalt kontraproduktive Forderung der „nationalen Unabhängigkeit der Tuareg“ zu unterstützen. Als ein Beispiel sei hier nur die deutsche „Gesellschaft für technische Zusammenarbeit“, GTZ (heute: GIZ) genannt, die dort mit einem milliardenschweren Programm undurchsichtige Politik machte, deren Mitverantwortlichkeit für die auch dadurch möglich gemachte Katastrophe heute nicht mehr geleugnet werden kann.
Dies ist besonders bitter, weil gerade Mali innerhalb Westafrikas eine führende Rolle und die höchst entwickelte Kultur der Verständigung unter den Ethnien und der Überwindung althergebrachter Stammeskonflikte entwickelt und bis zur Eskalation Anfang dieses Jahres auch erfolgreich betrieben hatte. Die „Cousinage“ genannte Form der Konfliktvermeidung beruht auf der in Mali auch heute noch praktizierten Polygamie, die de facto dazu führt, dass letztlich jeder mit jedem verwandt ist, also in jedem Fall eine friedliche Lösung gefunden werden muss. Dazu kommt, dass sich die Grenzen zwischen den Ethnien längst aufgelöst haben: Peul, Bambara, Tuareg, Bozo oder Dogon in einer Weise verheiratet, verschwistert und verschwägert sind, dass es sie in der „reinen“ Form immer weniger gibt. Dieses führt wiederum dazu, dass sich die Menschen in Mali, im Moment vor allem die Tuareg, in erster Linie als Malier fühlen, nicht als Angehörige dieser oder jener Volksgruppe. Deshalb sind sie auch nicht bereit, die Teilung des Landes zu akzeptieren.
Über deren und ihrer Unterstützer Interessen und Motive streiten sich die Experten. Wesentlich einleuchtender als der Wunsch nach „nationaler Selbstbestimmung“ ist jedenfalls die seit vielen Jahren bekannte Jumbo-taugliche Landebahn in der Nähe der Stadt Kidal, die als zentraler Umschlagpunkt des von Südamerika ausgehenden internationalen Drogenschmuggels dient. Aber auch das Interesse der Franzosen, Zugriff auf die in dieser Gegend reichen Uranvorkommen zu haben ist sicherlich nicht zu leugnen. Und seit vor einigen Jahren Ölvorkommen in der betroffenen Region entdeckt wurden, verstärkten die USA ihre Präsenz und Kenner sagten das Ende des friedlichen, lebenslustigen Mali voraus, zumal der libysche Diktator Gaddafi, schon lange als der „heimliche Präsident Malis“ gesehen, seitdem ebenfalls seinen Einfluss verstärkte.
Nach Gaddafis Sturz eskalierte die Situation in atemberaubender Geschwindigkeit. Gaddafis „Werwölfe“, fast die gesamten jungen Tuareg von Gao, Timbuktu und Kidal, die er als letzte Reserve mit Hilfe von Geld und Drogen nach Libyen gelockt hatte, kehrten nun bis an die Zähne bewaffnet in ihre Heimatländer zurück. Während Mauretanien, Niger oder Burkina Faso ihre Grenzen für deren Waffen dicht machten, erlaubte der malische Präsident Amadou Toumani Touré (ATT genannt) die Einfuhr des gesamten Waffenarsenals, das bis zu Boden-Luft-Raketen reichte.
Innerhalb kürzester Zeit begannen bewaffnete Angriffe auf nordmalische Kasernen, flankiert von politischen Offensiven in der europäischen Parteienlandschaft. Die in Frankreich und Marokko ansässigen Führer der nationalistischen Tuaregbewegung MNLA, die keinerlei Basis in der vor Ort lebenden Bevölkerung haben und hatten, lancierten professionelle Internetseiten, auf denen die baldige Gründung des Tuaregstaates „AZAWAD“ angekündigt wurde. Doch Präsident Toure setzte weiter auf Verhandlungen und friedliche Kompromisse, lehnte es ab, das schlecht bis überhaupt nicht bewaffnete Militär im Norden aufzurüsten und hielt weiter an dieser Strategie fest, auch als die Proteste dagegen lauter wurden. Die Empörung von Müttern und Frauen betroffener Soldaten, die sich in Massendemonstrationen ausdrückte, was in Afrika bereits Alarmstufe eins bedeutet, versuchte Toure durch im Fernsehen übertragene Diskussionen zu besänftigen.
So war es für manchen Beobachter keine allzu große Überraschung, dass am 22. März 2012 der bis dato unbekannte Capitain Amadou Haya Sanogo gegen ATT putschte. Was zunächst wie eine Meuterei frustrierter Soldaten wirkte, die sich dagegen wehrten, im Rahmen einer unklaren Politik verheizt zu werden, entpuppte sich im Handumdrehen als grundsätzlicher Angriff auf das bisherige politische System Malis. Vorgeblich ging es darum, den Norden des Landes nicht zu verlieren, der Name der Puschistengruppe offenbarte aber schon weitergehende Ziele: „Wiederherstellung der Demokratie und des Staates“ (CRNRDE): ein offensichtlicher Widerspruch zu der Tatsache, dass mit dem Putsch die für den 29.April 2012 festgesetzten Wahlen verhindert wurden und stattdessen ein in dem von ihm besetzten Staatsfernsehen heiser herumschreiender selbsternannter „Staatschef“ sämtliche demokratischen Institutionen außer Kraft setzte.
Sechs Monate später ist die Politik in Mali von Widersprüchlichkeit bestimmt:
- Zwar wurde auf Druck der westafrikanischen Union (CEDEAO) kurz nach dem Putsch eine Übergangsregierung eingesetzt, aber das letzte Wort hat bis heute der drei Jahre in den USA ausgebildete Folterknecht Capitain Sanogo, dessen Mannschaft die fünf wichtigsten Ministerien besetzt und der regelmäßig mit Übergangspräsident Diacounda Traoré und Ministerpräsident Modibo Diarra in den Medien erscheint, wohlwollend oder mit Stirnrunzeln deren Politik beurteilt und missliebige Politiker oder konkurrierende Militärs verhaften oder verschwinden lässt.
- Zwar ging es bei dem Putsch vordergründig darum, eine Abspaltung des Nordens zu verhindern, was seitdem gebetsmühlenartig von allen politischen Parteien und Fraktionen in Presse, Funk und Fernsehen beschworen wird. In Wirklichkeit wurde sie aufgrund des dadurch entstandenen Machtvakuums erst möglich und darüber hinaus der Weg frei gemacht, dass aus Afghanistan, Marokko, Niger und Algerien eingeschleuste Al-Qaeda Ableger nicht nur den Norden besetzten und dort eine Scharia-Terrorherrschaft ausüben, Hände und manchmal sogar Füße von Verdächtigen abhacken, öffentlich Frauen auspeitschen, die sie vorher vergewaltigen, und jegliches soziale Leben unterdrücken.
- Zwar wurde Präsident Amadou Toumani Touré gestürzt, weil er mit den selbst ernannten Tuareg-Führern verhandelte und damit den militärischen Einsatz gegen diese verhinderte. Seitdem tun aber seine Nachfolger, allen voran Putschistenchef Sanogo, nichts anderes: Sie verhandeln mit den Tuareg genauso wie mit den Schariafanatikern und ermöglichen letzteren damit, ihre Terrorherrschaft im besetzten Gebiet zu stabilisieren und weiter in den Süden vorzurücken.
- Zwar gibt es in Mali eine „Kultur des Dialogs“, die in psychologisch und humanistisch vorbildlicher Weise versucht, alle Konflikte, seien sie privater, seien sie politischer Natur durch Gespräch, Verständigung und Dialog mithilfe eines Vermittlers und nicht durch Gewalt zu lösen. Aber allein die Wahl des Vermittlers in diesem Konflikt, des Diktators von Burkina Faso, Blaise Campoare, des Mörders von Thomas Sankara (1949-1987), der einst größten Hoffnung Afrikas, garantierte schon das Scheitern dieser Vermittlung, da dieser die Parteien nur gegeneinander ausspielt, seinen persönlichen Nutzen daraus zieht und dadurch provoziert, indem er behauptet, der Krieg würde umso grausamer werden, je länger er hinausgezögert würde.
- Zwar gab es in Mali eine der liberalsten islamischen Gesellschaften, die immer Laizismus, Offenheit und Toleranz praktizierte, was ich neun Jahre lag am eigenen Leib miterleben durfte, eine islamische Gesellschaft, die sich im Süden eindeutig auch von Seiten der islamischen Geistlichen gegen ein Diktat der Scharia ausspricht. Aber de facto stärkt allein die Bemühung, sich gegen den radikalen Islam im Norden abzusetzen, den besseren, wahren Islam zu praktizieren, den Islam als Einheitsreligion und den sozialen Druck, sich zum Islam zu bekennen, öffentlich zu beten und sich als Frau zu verschleiern.
- Zwar gibt es inzwischen schon eine zweite Übergangsregierung, weil die durch den Putsch ausgehebelte führende Politikerkaste eine Teilhabe an der neuen Macht in Form einer „Regierung der nationalen Einheit“ forderte. Heraus kam dabei aber eine Regierung mit 32 Ministerien, die nur bewirken, dass die ohnehin fast leere Staatskasse vollends von wieder denselben raffgierigen Politikoberen geplündert wird, die schon immer das Volk bestahlen, das damit vollends das Vertrauen in sie verlor.
- Zwar gibt es in Mali 158 Parteien und unzählige zivilgesellschaftliche Organisationen, die seit sechs Monaten in Versammlungen, Konferenzen, Radio- und Fernsehdiskussionen, Massenveranstaltungen in Stadien (vor allem des islamischen Hohen Rats), Demonstrationen (bei einer wurde der neu eingesetzte Übergangspräsident fast gelyncht) oder auch nur in Teerunden auf der Straße über die Situation, den notwendigen Krieg im Norden, Korruption und die Erneuerung der Gesellschaft diskutieren. Aber tatsächlich paralysiert sich die politische Diskussion selbst und die Kluft zwischen der handlungsunfähigen und handlungsunwilligen Politik und der hier und jetzt sofort den Krieg wollenden Bevölkerung wächst von Tag zu Tag.
- Zwar wurden den armen Teilen der Bevölkerung feste niedrige Reis-, Zucker und Mehlpreise versprochen, kostenlose Schulen und Gesundheitsversorgung, Rechtssicherheit und Eliminierung der Korruption, weswegen der Putsch massenhafte Unterstützung fand, die der Junta erlaubte nach allen Richtungen zu taktieren. In Wahrheit sind einmal mehr die Armen die Leitragenden und Betrogenen. Die Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin sind um ein Drittel gestiegen, Fleisch zeitweise um das doppelte und dreifache, und von einer Verbesserung des Schul- und Gesundheitswesens ist so viel die Rede wie in Wirklichkeit umgekehrt proportional davon realisiert wird.
- Zwar gibt es unzählige Erklärungen und Analysen über die „wahren“ Hintergründe und Motive des Putsches, täglich neue Enthüllungen über die Machenschaften der alten herrschenden Klassen, vor allem des abgesetzten Präsidenten ATT, der selbst an führender Stelle in den Drogenhandel verwickelt gewesen sein soll und deshalb selbst den Putsch bestellte, bevor alles aufgeflogen wäre (er lebt jetzt in einer Luxusvilla mit Meeresblick in Dakar), die Verantwortung der Franzosen, die den Putsch mit den Tuareg organisierten, damit diese (indirekt, getarnt mit der gegenteiligen Behauptung) ihren Staat bekommen und dafür den Franzosen freien Zugang zum Uran garantierten, „der Westen“ oder „die Amerikaner“, die raffiniert alles eingefädelt haben, um hinterher alles diktieren zu können. Doch Theorien dieser Art verstellen nur den Blick auf die heutige Situation.
Die ist völlig außer Kontrolle geraten, hat sich verselbständigt und jeder versucht herauszuholen, was herauszuholen ist und ein möglichst fettes Schnäppchen zu machen: Die alte herrschende Klasse, die mit den Putschisten an die Macht drängende neue Mittelklasse, die Muslime, die Islamisten, die Tuareg, die Franzosen, der Westen, die Amerikaner und wer sonst noch die Möglichkeit hat, mitzumischen.
Und was haben, die Deutschen damit zu tun? Noch in den letzten Monaten vor dem Beginn des Aufstands gegen Gaddafi fand eine Waffenmesse in Tripolis statt, bei der die jahrzehntealte Tradition der milliardenschweren Waffengeschäfte fortgesetzt wurde. „Deutsche Waffen, deutsches Geld morden mit in aller Welt“: der „Eurofighter“ konnte dann seine erste Bewährungsprobe im NATO-Einsatz gegen Gaddafi bestehen und aus der Luft Gaddafis deutsche Waffen am Boden effektiv bekämpfen – und Deutschland verdiente doppelt. Dieses Modell wiederholt sich nun in Nord-Mali.
Erst ermöglichte gute deutsche „Heckler und Koch“-Wertarbeit den aus Libyen heimkehrenden Söldnern, Timbuktu, Gao und Kidal zu erobern, dann den auf dem Umweg über Katar mit deutschen Waffen versorgten Salafisten diese wiederum zu vertreiben und Scharia-Terror auszuüben. Derzeit plant die Bundesrepublik Deutschland, 200 Panzer der Marke „Leopard“ nach Katar zu liefern, obwohl Qatar so klein ist, dass sie dort kaum Platz hätten und öffentlich gerätselt wird, was Qatar wohl damit vorhat. In Mali weiß jedes Kind, was deutsche Geheimdienste zumindest auch wissen müssten: 20 dieser 200 Panzer würden den Salafisten ermöglichen, auch Bamako einzunehmen.
Deshalb wäre es das Mindeste, dass in Deutschland alle parlamentarischen und außerparlamentarischen Kräfte mobilisiert werden, um die die geplante Lieferung der 200 Leopardpanzer nach Qatar zu verhindern.
(1) Von politisch mit Lobbyisten bei der Europäischen Union bis kulturell z.B. einem international beachteten jährlichen Musik- und Trachtenshowfestival in Timbuktu.