von Rolf Maag -
Am 31. Oktober 1922 übernahm Benito Mussolini nach dem «Marsch auf Rom» in Italien die Macht. Der Tag vor 90 Jahren markierte den Beginn einer antidemokratischen, kriegerischen Epoche.
Eigentlich gehörte Italien zu den Siegern des Ersten Weltkriegs: Es hatte in den Pariser Friedensverhandlungen wichtige Gebiete wie Südtirol, Triest, Istrien und die Inseln des Dodekanes (südliche Sporaden; heute Griechenland) dazugewonnen. Dennoch sprach die italienische Rechte von einem «verstümmelten Sieg» (vittoria mutilata), denn sie hätte auch gerne noch die ehemals venezianischen Gebiete an der dalmatinischen Küste (heute Teil von Kroatien und Montenegro) sowie Albanien gehabt.
Ebenso unzufrieden war die Linke. Sie träumte von einem Umsturz nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution von 1917. Im August desselben Jahres war ein Arbeiteraufstand in Turin blutig niedergeschlagen worden; er wirkte als Mythos des kämpfenden Proletariats nach.
Unruhige Zeiten
Im September 1920 fuhr dem italienischen Bürgertum ein gehöriger Schreck in die Glieder, als Arbeiter der norditalienischen Metallindustrie nach gescheiterten Tarifverhandlungen einige der grössten Fabriken besetzten und dort die rote Fahne hissten. Die Regierung des liberalen Veteranen Giovanni Giolitti setzte darauf, dass das Experiment der Arbeiterselbstverwaltung innerhalb von kurzer Zeit scheitern werde und verzichtete auf einen Polizeieinsatz. Seine Einschätzung bewahrheitete sich zwar, doch grosse Teile der italienischen Öffentlichkeit hatten den Eindruck gewonnen, die Staatsgewalt sei nicht fähig, einer radikalen Minderheit entschlossen entgegenzutreten.
Die Faschisten als Retter?
In dieser angespannten Situation erschien vielen eine Gruppierung attraktiv, die bereit war, die Linke mit skrupelloser Gewalt zu bekämpfen: die am 23. März 1919 in Mailand gegründeten «fasci di combattimento» (benannt nach den «fasces», den Rutenbündeln der römischen Liktoren). Deren Anführer, der 1883 in der Region Emilia-Romagna geborene Benito Mussolini, war vor dem Ersten Weltkrieg ein Linker gewesen und hatte es 1912 sogar zum Chefredaktor des sozialistischen Parteiorgans «Avanti» gebracht. 1914 wechselte er das Lager und gründete das rechtsnationalistische Blatt «Popolo d'Italia
Diese Kehrtwende war weniger überraschend, als sie erscheinen mag, denn Mussolini war ein Anhänger des französischen Theoretikers Georges Sorel, der den Parlamentarismus verachtete und die «action directe» befürwortete, politisch aber nicht eindeutig festgelegt war. Mussolini kam es vor allem darauf an, seinen politischen Einfluss zu steigern; seit 1914 erachtete er den Kult der Nation als dafür wesentlich geeigneter als die internationalistischen Parolen der Linken.
Seit Juli erzeugten die «Squadre», die Stosstrupps der «Fasci», ein bürgerkriegsähnliches Klima, indem sie Funktionäre und Einrichtungen der Linken, aber zunehmend auch der «Popolari» (Christdemokraten) überfielen. Eine ihrer Spezialitäten war, ihre politischen Gegner zum Trinken von Rizinusöl zu zwingen, um sie so zu demütigen. Die staatlichen Stellen sahen dem wilden Treiben weitgehend tatenlos zu, viele Grundbesitzer und Industriebarone unterstützten es sogar aktiv.
Der «Marsch auf Rom»
Nachdem sich die faschistische Bewegung im November 1921 zum «Partito Nazionale Fascista» umgewandelt hatte, kam es zu einer weiteren Eskalation der Gewalt. Ganze Städte – unter anderen Ferrara und Ravenna – wurden zeitweise von den gut organisierten «Schwarzhemden» eingenommen; die aus Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten bestehende «Alleanza del Lavoro» konnte ihnen keinen wirksamen Widerstand entgegensetzen, da sie keinerlei staatliche Unterstützung erhielt.
Am 27. Oktober sah Mussolini seine grosse Stunde gekommen: Er erteilte seinen paramilitärischen Scharen den Befehl zum «Marsch auf Rom». Ministerpräsident Luigi Facta schlug König Viktor Emanuel III. vor, den Ausnahmezustand zu verhängen. Der Monarch stimmte zunächst zu, unterzeichnete die Anordnung dann aber doch nicht. Wäre wirklich der Wille dazu vorhanden gewesen, hätten Polizei und Militär die rund 30 000 vor der Stadt lagernden Squadristen ohne Weiteres in die Schranken weisen können, doch so hatte Mussolini leichtes Spiel: Nachdem ihm der König in einem Telegramm das Amt des Ministerpräsidenten zugesichert hatte, fuhr er mit dem Zug von Mailand nach Rom, wo er am Morgen des 30. Oktobers eintraf. Einen Tag später sprach ihm das eingeschüchterte Parlament mit 306 zu 116 Stimmen das Vertrauen aus.
Vorbild für Hitler
Kurz nach der faschistischen Machtergreifung notierte der hellsichtige deutsche Publizist Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch:«Hier kommt ganz offen eine antidemokratische, imperialistische Regierungsform wieder zur Macht. In einem gewissen Sinn kann man Mussolinis Staatsstreich mit dem Lenins im Oktober 17 vergleichen, natürlich als Gegenbild. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Kriege und Wirren ein.»
Kessler sollte leider Recht behalten, was vor allem daran lag, dass sich ein österreichischer Agitator namens Adolf Hitler in München Mussolini zum Vorbild nahm. Sein vom italienischen Faschisten inspirierter Putschversuch am 9. November 1923 scheiterte zwar kläglich, doch weniger als zehn Jahre später gelangte er auf legalem Weg an die Macht – mit den bekannten Folgen.
Video: 100 Jahre - Der Countdown 1922 Mussolinis Marsch auf Rom