Aufruf des Antifa AK Köln zur Demonstration gegen den Verfassungsschutz am 10. November 2012 in Köln-Chorweiler.
Am 4. November 2011 wurde die Öffentlichkeit über das unfassbare Treiben eines „Nationalsozialistischen Untergrunds” (NSU) informiert. Diese Gruppe zog 13 Jahre lang – von den staatlichen Behörden angeblich unbemerkt – mordend und Bomben werfend durch die Republik und tötete zehn Menschen.
Die Zeit der rassistischen Pogrome war Ausgangspunkt für den späteren NSU. In der herrschenden gesellschaftlichen Wahrnehmung sind diese Pogrome kaum präsent und wenn doch, werden sie als tragische historische Ausfälle betrachtet. Dabei sind die Nazi-Morde nur die Fortsetzung der Pogrome der 90er Jahre mit anderen Mitteln. Diese Marginalisierung der damaligen Pogrome im öffentlichen Bewusstsein und der rassistischen Gewalt heute wird auch ermöglicht durch ein mehrheitsgesellschaftliches Selbstverständnis als liberal und weltoffenen. Die Aufdeckung der NSU-Morde hat unmissverständlich vor Augen geführt, dass Nazis in diesem Land weiterhin töten und der Staat peinlich berührt wegschaut.
Die öffentliche Auseinandersetzung mit den NSU-Morden konzentriert sich auf die drei Täter_innen und ihre Unterstützer_innen. Die politisch-gesellschaftlichen Bedingungen des Mordens treten dagegen in den Hintergrund, so dass die Täter_innen und ihre Taten in ein mythisches Licht gerückt werden. Um dieser Mythologisierung des NSU entgegenzutreten, gilt es daher, die tagtäglichen faschistischen und rassistischen Angriffe und Morde in den Fokus zu rücken. Seit 1990 wurden laut der Antonio Amadeu-Stiftung 192 Menschen in rassistischer Motivation ermordet. Rassismus ist kein Randphänomen in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern in ihrer sog. „Mitte“ verankert.
Die Illusion vom „demokratischen Staat“
Ein zentraler Bestandteil in der Diskussion um den NSU-Skandal ist der moralisierende Vorwurf des Fehlverhaltens einzelner Akteur_innen bzw. Institutionen in einem ansonsten doch funktionierenden Rechtsstaat. Dieser Staat, unter dessen Obhut sich die vermeintlichen „Pannen“ vollzogen, wird dabei nicht in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil wird gerade von Kritiker_innen vermeintlicher staatlicher „Fehlleistungen“ immer wieder an den Staat appelliert, sich als vermeintlicher Garant für soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Stifter von „Freiheit und Gleichheit“ zu bewähren.
In dieser Form der Kritik drückt sich die stillschweigende Einverständniserklärung der Bürger_innen mit dem gewalttätigen und irrationalen Charakter der Demokratie aus. Der demokratische Staat als Gewaltapparat wird angerufen, um wenigstens den Anspruch auf das bürgerliche Glücksversprechen – einer „Chancengleichheit“ beim Zugang zu Kredit und Arbeit jenseits von Stand und Geburt – durchzusetzen. Doch der Schlachtruf der „Freiheit und Gleichheit“ ist schlechter als sein Image. Er impliziert das Kommando der kapitalistischen Herrschaftsordnung, deren reibungslosen Ablauf der bürgerliche Staat garantieren soll. Eine Herrschaft, die auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beruht und die Individuuen in eine allgegenwärtige Konkurrenz zueinander setzt. Ein verhängnisvolles Ganzes, das jede_n Einzelne_n in die scheinbare Rolle eines ohnmächtigen Objektes versetzt. Rechtsstaat, Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind elementare Formeln eines auf Unterdrückung, Gewalt und Ungleichheit fußenden bürgerlichen Regimes und seiner kapitalistischen Ausbeutung, das nicht verbessert, sondern abgeschafft gehört.
Mit den Mitteln des Rechts und der bloßen Forderung nach Demokratisierung ist eine auf fortschrittliche Veränderung gerichtete Perspektive nicht zu eröffnen. Ausgangspunkt der kritischen Beurteilung staatlichen Verfahrens im NSU-Skandal bleibt daher die Staatskritik. Wer von der Demokratie nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen.
Verfassungsschutz, Extremismustheorie und die „goldene Mitte“
Wird die oben angesprochene Empörung über vermeintlich staatliche Fehlleistungen mal konkretisiert, wendet sie sich hauptsächlich gegen den Verfassungsschutz (VS). Eine aufgebrachte, liberale Politik- und Medienlandschaft echauffiert sich über die stille Aktenvernichtung, der zügellosen Personalpolitik in der Rekrutierung der V-Leute und der rücksichtslosen Informationspolitik, kurz: der viel zu geheimen Umtriebe dieser Institution. Zusammengefasst mündet diese Kritik in der Forderung nach demokratischer Transparenz bzw. Offenlegung der Arbeitsweise des VS. Gerne wird dabei unterschlagen, dass es sich bei dem VS offiziell um ein geheimdienstliches Organ handelt. Ein solcher Dienst, der rechtlich und gesetzlich abgesegnet operiert, ist seinem Wesen nach auf jene beklagten Geheimdienst-Methoden angewiesen. Polemisch kann man also fragen: Was wäre denn ein gläserner VS ohne V-Leute? Dieser liberale Diskurs fragt nicht nach dem Zweck und der Form dieses Geheimdienstes, sondern dreht sich allein um seine immanente Funktionsweise, seine Überprüfung auf „rechtskonformes Handeln“ und seine „demokratische Kontrolle“. Im Grunde genommen besteht solche Kritik darin, das demokratische Publikum an die Notwendigkeiten des Geheimdienstkampfes gegen die Feinde des bürgerlichen Staates und dessen Institutionen im Namen der Verteidigung der demokratischen Freiheits- und Menschenrechte zu gewöhnen.
Daher muss auch die hegemoniale Erzählung einer zu schützenden „demokratischen Gesellschaft“ kritisch hinterfragt werden. In dieser Logik regiert die Toleranz ausschließlich gegenüber den eigenen Spielregeln. Wer sich ernsthaft dagegen stellt, gilt als Gefahr. Dabei wird nicht weiter unterschieden, ob es sich um einen vermeintlichen „Antikapitalismus“ von völkischen Freaks oder um emanzipatorische Bestrebungen gegen die bestehenden Verhältnisse zugunsten der befreiten Gesellschaft handelt; das Kredo lautet: extrem ist extrem. Dass sich der „Kampf gegen Extremismus“ traditionell gen links wendet, drückt sich u.a. im antikommunistischen Gründungsmanifest des VS („politischer Krieg gegen den Kommunismus“) aus. Dieses Schema der vermeintlich befriedeten „goldenen Mitte“ und diverser, bedrohlicher Abweichungen impliziert einen ideologischen Katharsis-Effekt; alle ideologischen Erscheinungsformen von Rassismus, Antisemitismus usw. können an die sog. „Extreme“ abgeschoben werden, die bestehende Ordnung hält ihre Weste vermeintlich weiß und stellt sich selbst eine trügerische Urkunde für Demokratie, Toleranz und Freiheit aus.
Demokratischer und institutioneller Rassismus
Rassistische Einstellungen finden sich auch bei stolzen Demokrat_innen der „Mitte“. Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda haben gezeigt, dass rassistische Aufläufe und Pogrome keine reinen Nazi-Angelegenheiten sind.
Der demokratische Rassismus ist kein Ausdruck individueller Dummheit, sondern entspringt aus bürgerlichen Verhältnissen. Die in ihrer bürgerlichen Existenz beständig bedrohten Individuen suchen nach legitimierenden Grundlagen und finden sie unter anderem in Vorstellungen vorgesellschaftlicher Gemeinschaften von Nation und Rasse. Diese vermeintlichen Schicksalsgemeinschaften bieten Halt und Wärme in einer unberechenbaren und feindlichen Welt der permanenten Bedrohungslagen. In diesen Gemeinschaften – so die Vorstellung – stehen sich die Menschen nicht mehr im kapitalistischen Verwertungszusammenhang gegenüber, sondern in partnerschaftlicher Eintracht. Die Identifikation mit der vorgestellten, eigenen Schutzgemeinschaft funktioniert allerdings nur in Abgrenzung zu den vorgestellten „Anderen“. Auf diese „Anderen“ werden Eigenschaften projiziert, die den eigenen Ängsten und Entsagungen entsprechen. In der Diffamierung der „Anderen“ als minderwertig zeichnet sich die eigene Angst ab, selbst einmal im kapitalistischen Wettbewerb den Anforderungen nicht zu entsprechen und sich deshalb außerhalb des konstruierten Kollektivs zu sehen.
Bürger_innen finden ihre eigene rassistische Menschensortierung dabei von einem demokratischen Rassismus des bürgerlich-demokratischen Staates bestätigt. Die Sortierung in In- und Ausländer_innen, in legale und „Schein“-Asylsuchende, in „Integrationswillige und –verweigerer“ sind nur einige Stichpunkte des herrschenden demokratisch-rassistischen Politikbetriebs. Sowohl bei Politiker_innen als auch bei ihrem Wahlvolk sind Vorstellungen von einem biologistisch oder kulturalistisch konstruierten „Staatsvolk“ vorhanden, demgegenüber „Fremde“ als Bedrohung erscheinen müssen. Nur in dieser Entgegensetzung wird das Staatsvolk real. Solche Vorstellungen wirken der ökonomischen Rationalität des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten nicht entgegengesetzt, sondern unterstützend. Je nach Konjunktur ist es für Staat und Kapital in unterschiedlichem Maße vorteilhaft, Einwanderer_innen als Arbeitskraftbehälter anzuziehen oder abzuwehren. Einerseits hat der Staat ein Interesse daran, eine „industrielle Reservearmee“ zu unterhalten, die Druck auf die Beschäftigten ausübt und die Löhne niedrig hält. Anderseits ist aus Sicht des Staates eine restriktive Grenzpolitik für die Interessen der nationalstaatlichen Kapitalverwaltung, die eine strikte Trennung von ökonomisch verwertbaren und unverwertbaren Menschen vorsieht, notwendig. Die grausamen Folgen dieser Politik sind vor allem an den südlichen Außengrenzen der Europäischen Union erkennbar, wo jährlich Tausende von Menschen beim Versuch der Einreise nach Europa sterben oder getötet werden.
Auch die rassistischen Ermittlungsverfahren der Polizei im Zusammenhang mit der Mordserie des NSU sind keine Einzelfälle, sondern fester Bestandteil eines in sämtlichen Staatsapparaten verankerten institutionellen Rassismus. So werden in regelmäßigen Abständen Debatten über die sogenannte „Ausländerkriminalität“ angestrengt. In diesen Debatten wird Migrant_innen mittels „objektiver Statistiken“ unter Ausblendung sozialer Hintergründe eine höhere „kriminelle Energie“ angedichtet. Dabei werden einzelne Kriminalitätsbereiche bestimmten Gruppen von Migrant_innen zugeschrieben und somit ethnisiert. So sprechen Medien und Politiker_innen völlig selbstverständlich von „vietnamesischen Zigarettenschmugglern“, „polnischen Autodieben“ und „afrikanischen Dealern“. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sich der demokratische Rassismus in seiner institutionellen Form reproduziert. Der institutionelle Rassismus der Staatsapparate verstärkt und legitimiert scheinbar den Rassismus aus der „Mitte der Gesellschaft“.
Was von der Erkenntnis des ideologischen Gehaltes von demokratischem sowie institutionellem Rassismus bleibt, ist daher nichts weniger als die Forderung der Abschaffung der gesellschaftlichen Zustände, die beides bedingen.
Verfassungsschutz auflösen!
Rassismus und Faschismus den Boden entziehen
Falls ihr den Aufruf unterstützen wollt schreibt bitte an: antifa-ak-cologne[at]riseup.net