Seit dem Atomausstieg ist die Braunkohle wieder gefragt – auch im rheinischen Revier: Dort will RWE mehr Kohle fördern als die Klimaschutzziele vertragen. Das jedenfalls werfen Forscher des Wuppertal Instituts dem Energiekonzern in einer bisher unveröffentlichten Studie vor.
Meter für Meter frisst sich der monströse Bagger durch die Wand aus Kohle. Jede Schaufel des 96 Meter hohen Ungetüms greift sich Brocken von der Größe eines Kleinwagens und spuckt sie am anderen Ende auf Förderbänder wieder aus – 240.000 Tonnen am Tag, rund um die Uhr. Die Arbeiter im Tagebau Garzweiler haben den Giganten schlicht den „240.000er“ getauft. Er ist einer von 20 Baggern im rheinischen Revier, die in Garzweiler und zwei weiteren Fördergruben jene Braunkohle aus der Erde graben, mit der RWE seine Kraftwerke füttert.
Zusammen schaffen sie 100 Millionen Tonnen Kohle im Jahr. Wird diese Menge verfeuert, pusten Kraftwerke mehr als drei mal so viele Tonnen Kohlenstoffdioxid (CO2) in die Atmosphäre – eins jener Gase, das zur Erwärmung der Erde beiträgt. Einen „Klimakiller“ nennen Umweltschützer das Gas deswegen. RWE will auch in Zukunft so viel Braunkohle verfeuern, dass nun Wissenschaftler des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie nun Alarm schlagen: Die Pläne des Energiekonzerns seien weder mit den Klimaschutzzielen des Bundes, noch mit denen des Landes vereinbar, warnen sie in einer unveröffentlichten Studie das Umweltministerium von Nordrhein-Westfalen.
Vor einem Jahr hat die Bundesregierung ihren ambitionierten Fahrplan für die Energiewende vorgelegt: Bis 2030 sollen erneuerbare Energien die Hälfte des Stroms liefern, 2050 sogar 80 Prozent. Zum Vergleich: Zurzeit sind es nur 20 Prozent. Das Wuppertaler Forschungsinstitut, das sich einer nachhaltigen Wirtschaft verschrieben hat und die Landesregierung berät, hat die Ziele von Angela Merkel und Co. jenen des Energiekonzerns RWE gegenübergestellt. Ergebnis: Schon im Jahr 2030 will RWE offenbar allein im rheinischen Revier mehr Energie aus der Braunkohle erzeugen, als Experten für ganz Deutschland für vertretbar halten – und dementsprechend mehr CO2.
Für das Jahr 2050 warnen die Forscher sogar noch deutlicher: Dann würde die Grenze um das Zehnfache überschritten werden. Auch wenn ein Sprecher des Konzerns die Ergebnisse als „höchstspekulativ“ zurückweist – die Eckdaten der Studie kommen von RWE selbst. So etwa die Pläne, wie viel Kohle der Konzern in den kommenden Jahrzehnten aus der Erde holen wollen, wie viel Strom er damit erzeugen will und wie viel CO2 er dazu in die Atmosphäre pusten muss. Die Daten zeigen deutlich: RWE setzt auch in Zukunft auf die Braunkohle – jenen Energieträger, den Umweltschützer als den klimaschädlichsten überhaupt bezeichnen.
Comeback der Kohle
Johannes Lambertz heißt der Herr der Schaufelradbagger und Tagebaue. Lambertz ist nicht nur Chef von RWE, sondern auch Vorsitzender des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins. Als der Kohlekönig Ende Mai ans Rednerpult auf einer Tagung “Kohlekraftwerke 2012″ im Düsseldorfer Hilton-Hotel tritt, lauscht ihm der ganze Saal. „Man kann von heute auf morgen aus der Kernenergie aussteigen”, sagt Lambertz gleich zu Beginn seiner Rede, „aber das hat Nebenwirkungen.“
Der Atomausstieg beschert der Braunkohle ein Comeback. Kaum hatte die Bundesregierung nach der Atomkatastrophe von Fukushima acht Meiler vom Netz genommen, drehten die Kohlekraftwerke auf: In 2011 verfeuerten sie 3,3 Prozent mehr Kohle als im Jahr zuvor, im rheinischen Revier stieg die Menge gar um 4,8 Prozent. Dort holt RWE etwas mehr als die Hälfte der deutschen Braunkohle aus der Erde. Der Höhenflug der rheinischen Kohle wird noch bis mindestens 2015 andauern, erst dann erwägt RWE, die Verbrennung der Kohle etwas zu drosseln. So steht es in den Daten, die die Wuppertaler Forscher ausgewertet haben.
Wenn es nach Johannes Lambertz geht soll die Kohle auch über 2020 hinaus ein Grundpfeiler der Energieversorgung bleiben. „Je mehr erneuerbare Energien wir haben, desto weniger Probleme haben wir gelöst“, warnt der RWE-Chef und wirft mit einem Beamer eine Grafik an die Wand: Eine Kurve gibt die Schwankung der Windenergie im April des Vorjahres an. Hat der Wind am ersten Tag noch für 20 moderne Kraftwerksblöcke geweht, fiel er in den folgenden sechs Tagen fast komplett aus. Kohlekraftwerke laufen dagegen Tag und Nacht – auch dann, wenn die Sonne nicht scheint oder Flaute herrscht. „Ohne konventionelle Energien wird der Ausbau der Erneuerbaren nicht möglich sein“, ist der RWE-Chef überzeugt.
Bessere Kraftwerke für die Zukunft
Natürlich weiß Johannes Lambertz, dass die Kohle der klimaschädlichste Energieträger ist. Aber Lambertz wäre nicht RWE-Chef, wenn er deswegen gegen die Braunkohle wäre. Stattdessen will er das Problem mit modernen und flexiblen Kraftwerken lösen – zum Beispiel in Niederaußem.
Dort steht Tilman Bechthold an einem etwa zwei Meter langen Tisch, auf dem zwei Kraftwerksblöcke und Kühltürme im Miniaturformat einen Blick in die Zukunft gewähren sollen. Bechthold leitet seit rund zwei Jahren eines der vier Braunkohlekraftwerke von RWE in Niederaußem. „Kohle fit für die Zukunft machen“, wirbt ein Schriftzug an der Wand des Besucherzentrums. „Wirkungsgrade erhöhen“, heißt das im Ingenieursjargon Bechtholds.
Anhand des Modells erklärt der 49-Jährige, wie RWE den Ruf der Braunkohle aufpolieren und sie umweltverträglicher machen will. Links stehen die ältesten Kraftwerksblöcke aus den 1960er Jahren mit einem Wirkungsgrad von etwa 32 Grad. Das bedeutet: Nur 32 Prozent der Energie, die beim Verbrennen entsteht, werden in Strom verwandelt. Der Rest entweicht aus dem Schornstein – ungenutzt.
Rechts davon, im neun Jahre alten Block werden schon 43 Prozent der Energie gewonnen. Dann deutet Bechthold auf “BoAplus”. Hier will der Kraftwerksleiter den Wirkungsgrad um weitere zwei Grad hochschrauben. Das Kraftwerk soll die Kohle aber nicht nur effizienter verbrennen, sondern auch schneller auf Minimalleistung herunterfahren. Weil dann die vier alten Blöcke stillgelegt werden könnten, würde BoAplus den CO2-Ausstoß um drei Millionen Tonnen pro Jahr senken, verspricht RWE. Zugleich würde das neue Kraftwerk die Stromproduktion besser an die Schwankungen von Solar- und Windkraftanlagen anpassen, schwärmt Bechthold.
Fiasko für den Umweltschutz?
Bisher ist BoAplus aber nicht mehr als eine Vision. Auch wenn RWE das Modell des Zukunftsprojekts schon gebastelt hat: Ob und wann der Konzern das Kraftwerk wirklich bauen darf, ist ungewiss. Darüber entscheidet derzeit die Kölner Bezirksregierung.
Sollte es eines Tages gebaut werden, würde es sechs Millionen Menschen mit Strom versorgen können. Allerdings mindestens 40 Jahre lang, kritisieren die Forscher vom Wuppertal Institut – sonst würde der Konzern auf einem Teil der Investitionskosten über 1,5 Milliarden Euro sitzen bleiben.
In Sichtweite von Niederaußem steht das Kraftwerk Neurath. Dort hat RWE kürzlich bereits zwei moderne Blöcke ans Netz genommen. Erst Neurath, dann Niederaußem – so würde es weitergehen, bis 2030 der gesamte Kraftwerkspark erneuert ist. Das schließt zumindest das Wuppertal Institut aus den Kohleplänen von RWE. Und weil die neuen Anlagen nicht nach wenigen Jahren vom Netz genommen werden können, gipfeln die Wissenschaftler in dem Vorwurf: „Es kann daher unterstellt werden, dass die RWE-Pläne ein ähnlich hohes Niveau an Braunkohleverstromung im rheinischen Revier wie im Jahr 2030, auch für die Zeit bis (mindestens) 2050 vorsehen.“
Heißt im Klartext: RWE setzt auch in dreißig Jahren noch auf Braunkohle, wenn die Energiewende längst vollzogen sein soll.
Aus Sicht der Umweltforscher wäre das ein Fiasko für die Klimaschutzziele. „Reine Spekulation“, erwidert ein RWE-Sprecher gelassen: Weder hätte der Konzern konkrete Kraftwerkspläne in der Schublade, noch ließe sich über Jahrzehnte vorhersagen, wie viel Kohle verfeuert werden muss, damit sich ein Kraftwerk rechnet – schließlich schwankt der Strompreis.
RWE hofft, eine weitere Karte ausspielen zu können: Den technischen Fortschritt. Im Kraftwerk Niederaußem forscht der Konzern emsig daran, den Ausstoß des klimaschädlichen Kohlenstoffdioxids noch weiter zu senken. Zum Beispiel mit einer effizienteren Methoden, die feuchte Kohle zu trocknen, bevor sie verbrannt wird. Doch auch hier wird weiterhin CO2 freigesetzt.
Für Tilman Bechthold wäre die beste Lösung daher: Das Gas gar nicht erst über die Schornsteine in die Atmosphäre zu blasen, sondern vorher abzutrennen. „Das funktioniert bereits“, sagt der Kraftwerkschef. Der einzige Haken: Noch gibt es keine Möglichkeit, Millionen Tonnen des Gases sicher zu speichern. Und dass sich das nicht so schnell ändern wird – darin sind sich RWE und die Macher der Studie ausnahmsweise einig.