Ex-Sicherungsverwahrte in Insel: "Das nimmt ein böses Ende"

Erstveröffentlicht: 
08.06.2012

Das Dorf Insel in Sachsen-Anhalt ist tief gespalten. Immer wieder demonstrieren Einwohner gegen zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter. Wer den beiden Männern helfen will, wird ausgegrenzt und bedroht.


Hamburg - Brigitte Kaiser* hat es satt. Inzwischen zieht sie in ihrem Haus in Insel, einem 450-Seelen-Dorf im Norden von Sachsen-Anhalt, abends die Vorhänge zu, wenn sie in ihrem Wohnzimmer sitzt. So will sie sich den Anblick kahlrasierter Neonazis ersparen, die durch die schlecht beleuchteten Straßen schleichen. Zwei Drohbriefe habe sie auch schon bekommen, sagt sie. Sie solle sich raushalten aus der "politischen Debatte", sonst werde ihr Schlimmes widerfahren, habe es geheißen.

Die "politische Debatte" währt seit Juli 2011: Zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter fanden damals Unterschlupf in einem Haus des Altmark-Dorfes. Doch viele Bewohner wollten die neuen Nachbarn nicht in ihrer Mitte haben. Sie protestierten vor dem Wohnhaus der beiden Männer in der Luise-Mewis-Straße, skandierten und hielten Transparente hoch: "Wir sind keine Insel für Straftäter!"

Neonazis mischten sich unter die Demonstranten, allein die "Kameradschaft Salzwedel" marschierte mit knapp 70 Mann auf und forderte die Todesstrafe, die NPD rief zu Kundgebungen auf. Einen angemeldeten Aufmarsch der rechtsextremen Partei für Freitagabend hat die Polizei verboten, Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht lehnten die Beschwerde ab. Ziel der Versammlung sei es, die in Insel geschaffene pogromartige Lage, die auf eine Vertreibung der ehemaligen Strafgefangenen gerichtet sei, aufrechtzuerhalten und zu stützen. Der Senat des Oberverwaltungsgerichts betonte, die Stimmungslage in Insel habe sich zugespitzt. Es ist nicht auszuschließen, dass dennoch Neonazis auftauchen werden.

Trotz Verbots der Demonstration sind erstmals in der Geschichte des Landesparlaments am Freitagnachmittag etwa siebzig Abgeordnete aller Fraktionen mit zwei Reisebussen in das Dorf gefahren und haben ein Zeichen gegen rechts und für die Unantastbarkeit der Menschenwürde gesetzt. Der Fall mache deutlich, dass eine viel intensivere und qualifiziertere gesellschaftliche Diskussion zum Thema Reintegration von Straftätern erforderlich sei, sagt Landtagspräsident Detlef Gürth. Wer Vorgänge wie in Insel verhindern wolle, "muss rechtzeitig qualifizierte Prozesse in Gang setzen und insbesondere die Bürger von Beginn an mitnehmen."

Mehr Angst vor Nachbarn als vor den Straftätern

"Es muss endlich etwas passieren", sagt Brigitte Kaiser. Sie hat sich von Anfang an auf die Seite der ehemaligen Langzeithäftlinge gestellt. Doch weder sie noch andere Befürworter wollen ihre Namen veröffentlicht sehen - ein Zeichen dafür, welch erschütternde Stimmung in dem Dorf mit sieben Straßen und keinem einzigen Geschäft herrschen muss.

In vereinzelten Fällen war die Bedrohung so groß, dass die Betroffenen Polizeischutz bekamen. "Man drohte uns, unser Haus würde angezündet werden", sagt Nicole Maurer*, eine junge Mutter. "Bei aller Zivilcourage - da liegt man nachts trotzdem wach. Und das Verrückte ist: Ich bange um meine Kinder - aber nicht wegen der Sexualstraftäter, sondern wegen des geballten Hasses einiger Nachbarn."

Vor wenigen Jahren wurde in Insel ein elfjähriges Mädchen missbraucht. Dorfbewohner rieten der Mutter des Mädchens damals, von einer Anzeige gegen den Jungen aus dem Ort abzusehen. "Und jetzt stehen ausgerechnet die in den Reihen der Protestler", sagt Nicole Maurer.

Einwohner, die so denken wie Nicole Maurer und Brigitte Kaiser, halten sich inzwischen zurück mit ihrem Engagement. "Wer Verständnis zeigt, wird sofort niedergebrüllt", sagt Eva von Angern, Rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt, "und das in einer Art und Weise, die mit Demokratie nichts zu tun hat". Man habe ihm den Zutritt zur letzten Dorfversammlung verweigert, sagt ein Mann, der sich für die verurteilten Sexualstraftäter einsetzt und Kontakt zu ihnen pflegt.

Ortsbürgermeister unter "Bambule"-Verdacht

Einige Inseler unterstützen die ehemaligen Sicherungsverwahrten Hans-Peter W., 54, und Günther G., 64, begleiten sie beim Einkaufen in den Supermarkt, helfen ihnen beim Werkeln im Garten hinter dem Haus. Günther G. soll gesundheitlich schwer angeschlagen und von seiner Krankheit gezeichnet sein. "Er würde gern hier bleiben, so lange er noch lebt", sagt Brigitte Kaiser. Sie hat Verständnis für diejenigen, die Angst vor Straftätern haben. "Aber irgendwo müssen sie ja leben."

Alexander von Bismarck weiß auch, wo: Nicht in Insel. Der Bürgermeister der Gemeinde lebt etwa zwei Kilometer weiter in einem Herrenhaus, das Grundstück umfasst 25 Hektar. Bismarck stand meist in der ersten Reihe der Protestler vor dem Haus der verurteilten Sexualstraftäter, die Rechtsradikalen unter den Demonstranten soll er als Gäste begrüßt haben. Bewohner haben ihn wegen Nötigung und Volksverhetzung angezeigt.

Für ebenfalls Freitagabend hat Bismarck Bewohner aus Insel auf sein Anwesen geladen, damit sie sich zum Fall informieren können. Eva von Angern wertet dies als "totalen Affront gegen das Landesparlament".

Bismarck habe "von Anfang an Bambule gemacht und das halbe Dorf aufgehetzt", sagt Werner Kroll*, Bewohner von Insel und "stiller Unterstützer", wie er sagt. Bismarck selbst reagierte auf Anfragen von SPIEGEL ONLINE am Freitag nicht.

"Die Leute haben Urängste", versucht eine Behördenmitarbeiterin das Verhalten der Protestler zu erklären. "Wenn man mit ihnen offen gesprochen hätte, hätten sie es akzeptiert."

Hans-Peter W. und Günther G. haben im Alkoholrausch mehrfach Frauen vergewaltigt, wurden 1985 und 1986 verurteilt. "Der Alkohol ist ihr größter Feind", sagt Nicole Maurer, "aber die trinken seit fast 20 Jahren nichts mehr, weil sie das wissen".

Im Oktober 2010 wurden die beiden Männer aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs aus der nachträglich gegen sie verhängten Sicherungsverwahrung entlassen. Während ihrer Haft in Baden-Württemberg durften sie Wellensittiche halten. Der zuständige Tierarzt überließ ihnen das Haus in Insel, das er geerbt hatte.

Der Tierarzt habe es gut gemeint, sagt Eva von Angern, die Linken-Politikerin. "Der will nur zuverlässig und pünktlich seine Miete vom Amt", sagt eine Protestlerin. Eine alleinerziehende Mutter, die zuvor in dem Haus gewohnt habe, sei mit Mietzahlungen im Rückstand gewesen.

Insel ist in zwei Lager gespalten. Ein Zustand, der vielleicht bleiben wird, auch wenn sich eine Lösung gefunden hat. "Das nimmt ein böses Ende", sagt Brigitte Kaiser. "So oder so."

*Die Namen sind der Redaktion bekannt.