Am gestrigen 10. Dezember 2011 versammelten sich in Russland zehntausende zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen die massiven Manipulationen bei den Wahlen zum Landesparlament, der föderalen Duma. Schon seit Sonntag, dem 4. Dezember, kam es vor allem in Moskau und Petersburg zu Protesten an denen sich mehrere Tausend Menschen beteiligten und bei denen die paramilitärischen OMON-Einheiten willkürlich Demonstrant_innen festnahm sowie Journalist_innen verprügelte. Gestern solidarisierten sich in Berlin mindestens 500 Menschen mit den Protesten in Russland und forderten „freie und ehrliche Wahlen“.
Die Auftaktkundgebung begann um circa 17 Uhr vor der Russischen Botschaft auf Berlins Tourismus-Meile Unter den Linden. Schon zu Beginn versammelten sich bis zu 300 Menschen mit Transparenten, Schildern und Bannern, die auf die massiven Wahlfälschungen aufmerksam machten. Der Bezug zu Deutschland wurde vor allem durch die deutsche Kooperation mit halbstaatlichen russischen Gasversorgern gesetzt. Aber auch auf Schröders Lobeshymne auf den vermeintlich „lupenreinen Demokraten“ bezog sich ein Banner, das „Lupen reinigen“ forderte.
Als Redner_innen traten verschiedene unabhängige Wahlbeobachter_innen auf, die ihre Erlebnisse vom Wahltag und den Auszählungen berichteten. Etwas irritierend war, daß in einigen Reden das Verhalten der Sicherheitsbehörden in Russland als positiv und sogar „gutmütig“ beschrieben wurde. Es soll bei den gestrigen Demonstrationen, zumindest in Moskau wird davon berichtet, zu Solidarisierung von Polizist_innen mit den Inhalten des Protesten gekommen sein. Auf der anderen Seite wurden aber insbesondere Petersburg zahlreiche Menschen zusammengeschlagen, verhaftet und in Schnellverfahren zu Arrest verurteilt. Von zurückhaltenden oder gar „gutmütigen“ Beamt_innen kann wohl kaum die Rede sein. Deshalb ist der positive Bezug auf russische Sicherheitsbehörden mehr als irritierend.
Hinzu kommt, daß sich der Protest, so positiv das Engagement junger Menschen und eher apolitischer Spektren zu bewerten ist, positiv auf das vermeintlich freie und unfehlbare Konstrukt „Volk“ beruft, welches endlich nach der Macht ruft. Der vorherrschende Slogan „Russland! Wahlen! Freiheit!“, der immer wieder von Symphatisant_innen der liberalen Partei „Jabloko“ angestimmt wurde, verweist ebenfalls auf eine grundsätzlich nationalistische Verknüpfung von Volk, Staat und vermeintlicher Emanzipation, wobei letzteres lediglich als Demokratie vorgestellt werden kann. Völlig mißachtet wird dabei, daß auch vermeintlich freie Wahlen nix an den Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems und der Diskriminierung marginalisierter Menschen ändern würden. Deshalb greift die Forderung nach einer Absetzung von Putin und Entmachtung der Partei Edinaja Rossija zu kurz. Der Protest in Berlin und in Russland ist eher Ausdruck eines wütenden Bürgertums, daß durch Putins „Wirtschaftsreformen“ und das russische Modell der „gelenkten Demokratie“ erst entstehen konnte, sich nun aber nicht mehr verarschen lassen will.
In Russland ist der Protest gegen die Wahlfälschungen ebenfalls mit nationalistischen Diskursen verknüpft. Die ersten Kundgebungen und Demonstrationen wurden maßgeblich von Aleksej Navalny und dem Bündnis Solidarnost' (Solidarität) initiiert. Sowohl der Blogger Navalny, als auch das vermeintlich liberale Bündnis fielen zuletzt aber durch ihre Beteiligung an der anti-kaukasischen Kampagne „Khvatit kormit Kavkaz“ (Stoppt die Fütterung des Kaukasus) [1] und am „Russischen Marsch“ am 4. November [2] auf. Letzteres ist der größte Aufmarsch von nationalistischen Organisationen, militanten Nazis und anderen nationalen Superioritätsfetischist_innen.
Auf Seiten der kremlloyalen Organisator_innen sind die Berührungsängste zu nationalistischen Partner_innen ebenfalls nicht sehr groß [3]. Im Gegensatz zur anti-nationalistischen und multi-ethnischen Inszenierung des regierenden Establishments suchte insbesondere die selbsternannte antifaschistische Bewegung NASHI Kontakt zu fremdenfeindlichen Fußballfans und militanten Nazis. So sollen zu den Kundgebungen von NASHI und / oder der Jugendorganisation von Edinaja Rossija Molodaja Gvardija auch Aktivist_innen des verbotenen Slavjanskij Sojuz [4] befunden haben.
Zum Protest in Russland und auch in Berlin kamen aber nicht nur die üblichen außerparlamentarischen staatsloyalen und oppositionellen Gruppen, sondern Tausende junger Menschen, die sich sonst wenig für Politik interessieren. Außerdem beteiligen sich an den Demonstrationen auch anarchistische, kommunistische und andere emanzipatorische Gruppen, die aber durchaus eine kritische Distanz bewahren. Dies war auch in Berlin der Fall. So zeigte eine kleine Gruppe junger Berliner_innen auf Leinwänden Bilder aus Moskau, die von der Größe der Demonstration erzählten, aber auch die Gewalt des Staates nicht ausließen.
Die Bewegung gegen die Wahlfälschung ist trotz der nationalistischen Diskurse wichtig und unterstützenswert. Wie gestern ein unabhängiger Wahlbeobachter in Berlin betonte, gab es Manipulationen auch in den vorhergehenden Wahlen. Doch erstmals gehen Tausende dagegen auf die Straße und zeigen mutig Gesicht. Das ist sehr viel Wert in einem Land, wo kritische Journalist_innen zusammengeschlagen oder ermordet werden, wo emanzipatorische Aktivist_innen und Antifaschist_innen als Terrorist_innen verfolgt werden sowie die Nomenklatur sich auf Kosten marginalisierter Menschen bereichert.
[1] zur Kampagne und den Kundgebungen im Oktober 2011 siehe hier
[2] zum „Russischen Marsch2 am 4. November 2011 siehe hier
[3] siehe Eintrag im Antifa Blog und in der staatlichen Zeitung Gazeta (beides auf russisch)
[4] Mehr Informationen zur Nazi-Organisation Slavjanskij Sojuz auf dem Blog der Gruppe 19. Januar Berlin