Man hat uns das Datum 6. April gestohlen

Erstveröffentlicht: 
21.10.2011

Zu Pedram Shahyars "Thesen über die neuen Protestbewegungen" in ak 562

"Der Funke springt über", schrieb Pedram Shahyar in ak 562, als plötzlich nicht mehr nur in Kairo und Bengasi, sondern auch in Athen, Madrid und Barcelona auf öffentlichen Plätzen gecampt und protestiert wurde. Und weiter: "Es ist das urbane gebildete Prekariat, das die Revolten für ein anderes Leben anführt." Auf diese Diagnose antwortet nun die Redaktion der Zeitschrift Wildcat: Die Fixierung auf die politische Ebene der Kämpfe führe dazu, dass die sozialen Prozesse, die ihnen zugrunde liegen, übersehen werden.

 

Die Anfrage der ak-Redaktion, uns in dieser Zeitung an einer Debatte um die Bedeutung der Aufstände in Nordafrika anhand des Artikels von Pedram Shahyar aus ak 562 zu beteiligen, haben wir mit einigem Zögern angenommen. Wie so oft bei Texten der "radikalen Linken", die sich an der Schnittstelle zwischen Straßenmobilisierung und Parlament bewegen, stehen am Anfang zwar auch richtige Fragen - die Antworten scheinen auch nicht so ganz falsch zu sein, aber am Schluss werden dann ganz andere Inhalte vermittelt, als die Begriffe und der radikale Gestus des Autoren suggerierten. Das hängt u.a. mit der fehlenden Reflexion über die Verquickung von politischem Engagement und der eigenen Reproduktion zusammen. Zugespitzt gesagt: Eine ganze Generation der akademischen Linken hängt direkt oder indirekt am Tropf der Linkspartei, ohne das in ihren öffentlichen Äußerungen zu benennen. Auch der "Multiheimatler" Shahyar (1) oszilliert zwischen Attac, der Bundestagsfraktion der Linkspartei und der "radikalen Linken". Im Folgenden Ausführungen zur "realen Bewegung" in Ägypten; ausführlicher in den Wildcats 89, 90 und 91.

 

In der ersten seiner fünf Thesen übersetzt Shahyar die in der Revolte populäre Parole "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" oder kurz: "Wir wollen leben! Wir wollen Essen!" in die der "Einheit von sozialer Frage und Demokratie". Auf den Demokratiediskurs werden wir an anderer Stelle nochmal ausführlich eingehen - jedenfalls rebellieren die Menschen in Nordafrika heute, anders als bei den Umbrüchen von 1989ff., nicht gegen die verknöcherte Bürokratie eines Staatskapitalismus, sondern gegen die Wirklichkeit eines globalen Wirtschaftsliberalismus mit seiner ausufernden Korruption und seiner Praxis, soziale Unruhen durch einen riesigen Repressionsapparat zu unterdrücken.

 

Zweitens: Der Kampf hat sich in Ägypten nicht erst auf dem Tahrirplatz entwickelt, und er findet auch nicht nur dort statt. Shahyars Fixierung auf die politische Ebene ignoriert soziale Prozesse und konkrete Kämpfe um "Gerechtigkeit" und "Gleichheit" in den Betrieben und Stadtvierteln. Diese erwähnt er nur abstrakt als Hintergrundrauschen der Revolte - in den Fokus stellt er als wichtigste handelnde Gruppe und Avantgarde das Milieu der prekären Gebildeten, ihre Erfahrung auf dem Platz, ihre zweiwöchige Konfrontation mit dem Staatsapparat.

 

Wie bekannt ging die Initialzündung zur offenen Herausforderung der Staatsmacht im Januar vom "Milieu" der gebildeten Mittelschicht aus. Aber die Ausschließlichkeit der Perspektive von Shahyar blendet zwei wichtige Punkte aus: Kollektive Kämpfe und Kampfformen wurden nicht von den Mittelschichtsjugendlichen entwickelt, sondern von ArbeiterInnen. Erst durch die Bewegungen in den Betrieben mit ihren tausenden Streiks und Sit-Ins seit 2004 haben Teile der Bürgerrechtsbewegung und Parteienopposition angefangen, sich mit der sozialen Realität der ägyptischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Erst durch die öffentlichen Sit-Ins von entlassenen ArbeiterInnen Anfang 2010 in Kairo und anderen Städten, denen sich SlumbewohnerInnen und andere anschlossen, hat die Idee der Platzbesetzung ihre Form gefunden. Und erst die in Streiks gewonnene Erfahrung, dass "das System" ökonomisch angreifbar ist, hat der Revolte den Schwung bis zum Sturz Mubaraks verliehen.

 

Ohne die gemeinsamen Kämpfe von Festangestellten, Befristeten und Arbeitslosen wäre "Gleichheit und Gerechtigkeit" nicht zur vorherrschenden Parole geworden. Ohne ihre Wut über himmelschreiende Lohnunterschiede (offiziell 1:1000 zwischen Mindest- und Maximallohn!), Vetternwirtschaft und Perspektivlosigkeit wäre Mubarak nicht gestürzt. Und es waren die Armen und die SlumbewohnerInnen, die während der Revolte in Suez, Alexandria, Kairo, Port Said ... die Polizei niedergekämpft haben - und die auch den größten Blutzoll leisten mussten.

 

Shahyar idealisiert die durchaus widersprüchlichen Prozesse der Revolte. Die Kommune vom Tahrirplatz bleibt eine überaus wichtige Erfahrung der jungen ägyptischen Generation. Sie ist aber in den Fraktionierungen und Konflikten seither brüchig geworden. Hesham Sallam stellt die Frage, warum unmittelbar vor der Revolte Streiks auch von prominenten Oppositionseliten als legitim und geradezu notwendig angesehen wurden, um berechtigte Interessen durchzusetzen (selbst wenn sie, wie der große Truckerstreik vom Dezember 2010, hunderte Millionen kosteten), während ab April genau dieselben Medien und dieselben Oppositionellen bis hin zur Revolutionary Youth Coalition gegen Streiks auftreten und sie als Kämpfe für Partikularinteressen denunzieren.

 

Die Antwort sieht er in einem tiefen, bis in Teile der Protestbewegung reichenden Elitenkonsens, die sozialen Verhältnisse zu zementieren. (2) Neben kulturellen und anderen gesellschaftlichen Brüchen ist es vor allem die tiefe soziale Spaltung, die zum Auseinanderdriften der Bewegung führt.

 

Deshalb ist es gefährlich, wenn Shahyar der akademischen Jugend eine Avantgarderolle zuweist. Wenn es innerhalb der bestehenden Machtstrukturen GewinnerInnen geben kann, werden sie aus genau diesem Milieu kommen. Seine Befürchtung, dass dieses Milieu "von einem neuen herrschenden Block isoliert und marginalisiert" werden könnte, ist nur die halbe Wahrheit - sie wird für den Teil zutreffen, der im Laufe der Kämpfe freiwillig oder unfreiwillig seine alte soziale Position verloren hat. Die andere Hälfte der Wahrheit ist die Gefahr, dass aus den Akteuren neue Führungsschichten entstehen. Land wird an junge engagierte AgrartechnikerInnen vergeben, damit sie AgrarunternehmerInnen werden; die Computerbranche ist eine der wenigen, die ein bisschen floriert, usw.

 

In den Betrieben vermittelt das Erstarken der Gewerkschaften den Rückzug auf Partikularinteressen. Während Streiks, die nicht nur symbolisch die Produktion unterbrechen, polizeilich unterdrückt wurden, sind die Hoffnungen der unabhängigen GewerkschafterInnen auf Verbesserungen auf institutionellem Wege allesamt ins Leere gelaufen: Der geforderte Mindestlohn führt für viele tatsächlich zu einer Lohnsenkung und hat für die Mehrzahl der im informellen Sektor Arbeitenden sowieso keine Relevanz. (3) Die Begrenzung von Löhnen nach oben hat selbst nach Einschätzung der halbstaatlichen Al Ahram keine Folgen, da sie das Prämiensystem nicht berücksichtigt usw.

 

Mit der Auflösung des Unterbaus der alten Staatsgewerkschaftsföderation ETUF, die mit gefälschten Wahlen und Korruption begründet wurde, und dem Einfrieren ihres Vermögens beginnt nun der Streit unter Gewerkschaftsoppositionellen und VertreterInnen unabhängiger Gewerkschaften (was sich teilweise überschneidet), ob sie nicht doch das Erbe der alten Gewerkschaft übernehmen sollten. Die gemeinsame Vision, die sich in den Arbeiterkämpfen ausgedrückt hat, droht dem vereinzelten Alltagskampf zu weichen.

 

Es ist eine offene Frage, ob sich aus der aktuellen Streikwelle kurzfristig etwas anderes als die Vertretung von "Partikularinteressen" entwickelt und sich gemeinsame Interessen verschiedener Beschäftigtengruppen (und nicht zuletzt der Mehrheit der im informellen Sektor Arbeitenden!) nicht nur in einem diffusen und positiven Bezug auf das Erbe Nassers manifestieren. Aber diese Kämpfe haben immer das Potenzial, die Fragen einer gesellschaftlichen Umwälzung gegen die Gewerkschaftslogik auf die Tagesordnung zu setzen. (4)

 

In Bezug auf die aus der Mittelschicht kommenden jugendlichen AktivistInnen machte der Sozialhistoriker Joel Beinin kürzlich bei einer Fahrt nach Suez die desillusionierende Erfahrung, dass "... die aus der Ära Mubaraks wohl bekannte Zusammenarbeit des Unternehmensmanagements mit Sicherheits- und Geheimdienstapparat ... weiter an[dauert]. Neu ist, dass die Unterdrückung der Stimmen der Arbeiter und anderer ,dummer' Leute nicht mehr nur allein das Vorrecht ihrer Manager ist. Nun fühlt sich auch die ,Revolutionäre Jugend' berechtigt, zu bestimmen, wer mit wem sprechen und was gesagt werden darf." (5)

 

Die von Shahyar für die vermeintliche Avantgarde geforderte Aufgabe, die "marginalisierten Bevölkerungsschichten" zu "empowern", hat mehr als einen schalen Beigeschmack. Natürlich ist es wichtig, dass alle ihre erlernten Fähigkeiten in einen kollektiven Prozess einbringen; auch für die Entwicklung der Streikbewegung war es ein wichtiger Punkt, dass Einzelne aus der bürgerlichen Oppositionsbewegung ihre Kenntnisse und Fähigkeiten eingesetzt haben, um Kommunikationskanäle zu schaffen. Aber meint Shahyar das?

 

Seine Angst vor einer Marginalisierung des akademischen Protestmilieus ist nicht nur dem Machtapparat geschuldet, sondern auch und vor allem einer trägen konservativen Mehrheit, verkörpert durch die Muslimbrüder. Aber statt nach den Gründen für eine zunehmende Entfremdung zwischen "Milieu" und Bevölkerung sowie den objektiven momentanen Grenzen der Revolte zu fragen, transportiert er nicht die Angst einer "Bewegungsavantgarde", sondern einer selbst ernannten "Elite". Empowern heißt dann vor allem, dass die sogenannten "Subalternen" die durch NGOs und demokratische Staatsinstitutionen strukturierten Kanäle und Machtgefüge akzeptieren und für sich nutzen lernen sollen.

 

Ohne Analyse der sozialen Realität wird die hiesige Linke nach der ersten Euphorie von der Wirklichkeit ernüchtert werden. Der "Funken" der Revolte wird nur dann auch unser gesellschaftliches Umfeld entzünden, wenn wir sie als Anregung nehmen, die eigenen sozialen Rollen zu hinterfragen - der Moment, in dem Leute sich bspw. nicht mehr als AngestellteR dieser oder jener Kategorie oder als Schicht definiert haben, sondern diese Kategorien hinfällig wurden.

 

Das müsste Fragestellungen aufwerfen wie: Akademische Bildung bedeutet nicht unbedingt geistige Emanzipation, davon untrennbar ist sie Berufsqualifikation zur "Führungskraft"; Individualismus bedeutet nicht nur Autonomie gegenüber einem Herrschaftssystem, sondern auch Zerstörung von Kollektivität im Arbeitsalltag. Wenn sich Gewerkschaftsfunktionäre und Parteiangestellte als radikale VorkämpferInnen für ein "anderes Leben" aufführen, ohne die eigene soziale Rolle (als einfache Verwaltungsangestellte) zu kritisieren, sondern qua Amt als IdeengeberInnen und ProjektleiterInnen auftreten, dann ist nicht nur Vorsicht geboten, sondern eine rote Linie überschritten. Wenn wir wirklich denken, dass der Neoliberalismus am Ende ist - und wenn wir zu diesem Ende beitragen wollen - dann sollten wir auch endlich seine individualistische Ideologie von Freiheit als Netzwerk autonomer Individuen überwinden!

 

Wildcat Redaktion

 

* Widdad Dimirdach, Arbeiterin der Ghazl al-Mahalla, über die Usurpation des historischen Aufstands in Mahalla am 6. April 2008 durch die "Jugend des 6. April". Zitiert nach le monde diplomatique, 12.8.11.

 

Anmerkungen:

1) Siehe das Interview "Ich bin ein Multiheimatler" mit Pedram Shahyar in der taz vom 24.4.06

2) Hesham Sallam: Egypt: Striking Back At Egyptian Workers, erschienen auf www.jadaliyya.com am 23.6.11

3) Entsprechend der Entwicklung in Deutschland bewegt sich der geforderte Mindestlohn auf der Armutsschwelle: 1.500 Pfund als Familienlohn entsprechen etwa der UNO- Armutsdefinition von zwei Dollar pro Kopf und Tag; die vom Militärrat anvisierten ca.700 Pfund entsprechen der definierten Grenze von extremer Armut (1,25 US-Dollar pro Kopf und Tag). Zudem macht heute das oftmals extrem niedrige feste Grundgehalt nur einen Teil des Gesamtlohns aus; die Umsetzung der Mindestlöhne wird z.T. durch die Verrechnung des dann höheren Grundgehaltes mit Prämien erreicht, so dass in der Summe oft eine Lohnsenkung übrig bleibt.

4) Die Auseinandersetzung um die Aussetzung von Streiks durch die Unabhängigen Gewerkschaften macht die Ambivalenz der gewerkschaftlichen Organisierung deutlich. Siehe Johannes Stern: Unabhängige Gewerkschaften wollen Massenstreiks und Proteste beenden, Linke Zeitung, 2.10.11

5) Joel Beinin: Revolution And Repression On The Banks Of The Suez Canal, erschienen auf www.jadaliyya.com am 12.7.11