Als einziges Bundesland beteiligt sich Niedersachsen an einem EU-Projekt, das Demonstrationstaktiken erforschen will. Initiativen fürchten, ausgeforscht zu werden.
HANNOVER taz
| Als einziges Bundesland in Deutschland beteiligt sich Niedersachsen
mit seiner Polizei an einem EU-Projekt, das Demonstrationstaktiken
erforschen will. Zwei MitarbeiterInnen aus dem Sozialwissenschaftlichen
Dienst der niedersächsischen Polizei arbeiten bei einem internationalem
Forschungsvorhaben unter Leitung der schwedischen Polizei mit, das sich
"Good practice for dialogue and communication as strategic principles
for political manifestations in Europe" nennt, kurz: Godiac.
Bei Godiac sollen "die Möglichkeiten gezielter
kommunikativer und dialogischer Einsatzpraktiken zur Verhinderung
beziehungsweise Minimierung von Gewalt im Zusammenhang mit
Demonstrationsgeschehen" erforscht werden, antwortete Innenminister Uwe
Schünemann (CDU) auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Landtag.
Die EU möchte so ihr Wissen über DemonstrantInnen, ihre Ideologie und
Strategie erweitern, heißt es in der Projektbeschreibung. Es gebe eine
"Internationalisierung der Proteste", die "große Herausforderungen" für
die Polizei berge.
Im Rahmen von Godiac sollen "angemessene Maßnahmen" entworfen werden,
um mit diesen Entwicklungen umzugehen. Das Projekt startete bereits im
vergangenen Sommer und soll bis Juli 2013 insgesamt zehn Feldstudien
über Massenproteste hervorbringen.
Die erste Studie im Rahmen von Godiac wurde
über die Castor-Proteste im Wendland im vergangenen November
angefertigt. Bei den Bürgerinitiativen (BIs) vor Ort kam das gar nicht
gut an, sie sehen sich als "unfreiwillige Objekte internationaler
polizeilicher Untersuchungen". In einem offenen Brief an den
Sozialwissenschaftlichen Dienst schlagen die Bäuerliche Notgemeinschaft,
die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, die Kampagne "Castor? Schottern"
und weitere Initiativen ein Gesprächsangebot der Polizei aus. Diese
hatte zum Nachbereitungsgespräch des Großeinsatzes geladen, womöglich im
Rahmen der Godiac-Untersuchungen.
"Es geht nicht darum, wie in Zukunft Gewalt
verhindert werden kann", sagt Wolfgang Emke von der BI
Lüchow-Dannenberg, "sondern darum, dass wir ausgeforscht werden sollen."
Das tatsächliche Ziel der Studien sei es, Aufstandsbekämpfung zu
erproben. "Da werden polizeiliche Durchsetzungsstrategien
durchgespielt", glaubt Emke, mit dem Ziel, den Auftrag der Polizei zu
verwirklichen. Im seinem Fall wäre dies, den Castor-Transport gegen den
Widerstand der AtomkraftgegnerInnen an sein Ziel zu bringen. Insofern
stünden sich die Interessen der ForscherInnen und der Bürgerinitiativen
diametral entgegen. Emkes Initiative sei zwar grundsätzlich zu
Gesprächen mit der Polizei bereit, jedoch nur als Partner, "nicht als
Gegenstand einer Studie".
Die beiden Godiac-MitarbeiterInnen haben im Wendland die
ausländischen FeldforscherInnen bei der Kontaktaufnahme zu Vertretern
der Protestbewegung und zur Polizeieinsatzleitung unterstützt. Weitere
PolizistInnen halfen den ForscherInnen bei der Orientierung. Bislang
liegen von der "Feldstudie Castortransport" noch keine Ergebnisse vor,
denn sie ist noch nicht abgeschlossen.
Die innenpolitische Sprecherin der
Linksfraktion, Pia Zimmermann, ist mit der Antwort aus dem
Innenministerium unzufrieden. "Ich glaube denen gar nichts!", sagt sie.
Godiac sei nicht zur Entwicklung deeskalierender Maßnahmen da, "sondern
um das Verhalten von Demonstrierenden zu studieren, um repressive
Polizeitaktiken weiterzuentwickeln". Das Interesse der Polizeiforscher
liege darin, besser auf Demonstrationen zugreifen und potenzielle
VersammlungsteilnehmerInnen im Vorfeld kriminalisieren zu können.
"Schünemanns Politik geht ja nicht dahin, die Demonstrationsfreiheit zu
stärken, sondern in die Gegenrichtung", sagt Zimmermann. Da passe Godiac
gut ins Bild.
Zimmermann befürchtet zudem auch Parallelen zu
einem Leitfaden für die Polizei- und Sicherheitsbehörden bei
internationalen Protesten, der das Ergebnis eines früheren EU-Projekts
war. Er enthält Vorschläge wie die Verhängung von Reisesperren und den
frühzeitigen Austausch personenbezogener Daten etwaiger
DemonstrationsteilnehmerInnen.
Neben der niedersächsischen Polizei ist auch
die Deutsche Hochschule der Polizei in Münster an dem Projekt beteiligt.
Joachim Kersten, Professor für allgemeine Polizeiwissenschaft an der
Hochschule, hatte in der taz Vermutungen, das Projekt richte sich gegen
Linke, als "altlinke Verschwörungstheorien" zurückgewiesen. "Meine
Mitarbeiter untersuchen, wie die Auseinandersetzungen zwischen Polizei
und Demonstranten funktionieren", sagte er.