Im September 2009 haben sich zwei Aktivistinnen am Ausfahrtstor des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in Berlin fest gekettet. Sie blockierten die Ausfahrt 27 Stunden lang um gegen Fördergelder in Millionenhöhe für die Entwicklung und Optimierung von gentechnisch veränderten Pflanzen zu protestieren, die Ministerin Anette Schavan unter dem Label von Sicherheitsforschung Jahr für Jahr zur Verfügung stellt. Jetzt sind die Aktivistinnen wegen Nötigung angeklagt. Sie sollen die Ministerin Schavan daran gehindert haben, ihren Arbeitsplatz zu erreichen.
Am ersten Verhandlungstag wurde eine Zeugin fest genommen (inzwischen ist sie wieder frei), der nächste Verhandlungstag (mit der engagierten, und teilweise konfusen Richterin) ist am Montag, 18.04.2011 um 14:30 Uhr in Saal 768, Amtsgericht Tiergarten.
Montag war nun der erste Verhandlungstag gegen eine der beiden Aktivistinnen. Die Richterin hatte sehr spezielle Vorstellungen, wie sie „ihren“ Prozess führen wollte. So verbot sie von Anfang an das Trinken von Wasser im Gerichtssaal, das Tragen von Mützen oder anderen Kopfbedeckungen (aber nur für männlich definierte Personen), der Antrag der Angeklagten und ihres Rechtsanwaltes nebeneinander sitzen zu dürfen wurde von Richterin Müller abgelehnt mit der Begründung, dass sie die Sitzordnung bestimme, ein Justizbediensteter wurde angewiesen alle Personen, die die Tür knallen ließen aufzuschreiben, die Richterin verließ mehrfach den Saal ohne die Verhandlung zu unterbrechen und übertrug die Aufsicht in dieser Zeit dem Staatsanwalt... Im Gesamteindruck schien die Richterin Müller etwas konfus und ihre Verwirrung durch aufgesetzte Autorität überdecken zu wollen. Ihre Sorgfalt und eigenwillige Prozessleitung hat Richterin Müller schon in anderen Prozessen unter Beweis gestellt, siehe
http://www.mein-parteibuch.com/blog/2008/12/02/verbotsirrtum/
Zeugin im Gericht verhaftet
Nachdem sich der Beginn schon um mehr als eine Stunde verzögert hatte, wurden alle (12 ! - davon 6 Aktivist_innen) Zeug_innen aufgerufen. Nachdem festgestellt wurde, dass alle anwesend waren, wurden die Zuschauer_innen, die Angeklagte und alle Zeug_innen bis auf eine aus dem Saal geschickt. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich: die verbliebene Zeugin wurde verhaftet, weil sie zu einem Gerichtstermin nicht erschienen war (sie war im Urlaub gewesen und hatte sich im nachhinein „nur“ telefonisch entschuldigt). Inzwischen ist die Zeugin (nach einer Nacht in polizeilicher Gewahrsam) wieder auf freiem Fuß, da der sofort eingeschaltete Anwalt den Richter (und Staatsanwalt) davon überzeugen konnte den Haftbefehl wieder aufzuheben. Nach einiger Zeit wurde nun die verhaftete Zeugin aus den Tiefen des Amtsgericht Tiergarten in den Zeugenstand gerufen. Nachdem sie von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht hatte, sollte sie wieder abgeführt werden ohne, dass sie Gelegenheit hatte eine Anwaltsvollmacht zu unterschreiben, die für sie von anwesenden Zuhörer_innen vorbereitet worden war. Die Justizbediensteten (es waren ca 10 im Saal anwesend) schubsten die Verhaftete zur Seite, damit sie bloß nicht die Vollmacht, die sie unterzeichnen sollte/wollte in Empfang nehmen konnte. Diskussionsversuche mit Richterin und Justizbediensteten waren fruchtlos, statt dessen ließ die Richterin den Saal räumen. http://linksunten.indymedia.org/de/node/37449
Öffentlichkeit zeitweilig ausgeschlossen
Als die Öffentlichkeit nun endlich ausgeschlossen war (die stört ja sowieso nur bei der Verurteilung) musste sich die Richterin nun überlegen, warum (auf welcher Rechtsgrundlage) sie die Öffentlichkeit ausgeschlossen hatte. Dies fiel ihr sichtlich schwer, also stellte sie sie wieder her, allerdings unter der Auflage, dass alle Zuhörer_innen nun beim Betreten des Saales ihren Personalausweis vorzeigen mussten, die Personalien wurden aufgeschrieben und ein Sitzplatz wurde zugewiesen, so dass die Richterin nun einen Sitzplan vor sich liegen hatte und einfacher Ordnungsstrafen verhängen konnte.
Justizbedienstete fordern Hausverbot für Zuhörer_innen
Es befanden sich nun deutlich weniger Personen im Gerichtssaal als vorher, da nicht alle Zuhörer_innen diese Schikane über sich ergehen lassen wollten. Die meisten anderen warteten vor dem Saal und vertrieben sich die Zeit u.a. mit Spielen und Gesprächen mit den zahlreich anwesenden Justizbediensteten. Dies schien einige der Angestellten so auf das Gemüt zu drücken, dass einer in den Gerichtssaal kam und sich bei der Richterin beschwerte, dass er und seine Kolleg_innen draußen „angepöbelt“ würden, ob er die Leute aus dem Haus werfen dürfe. Er wartete kaum die Antwort der Richterin ab (die überrumpelt ein „jja“ stotterte) um wieder hinaus zu gehen und endlich Hand an zu legen. Die Zeug_innen konnten ja leider nicht hinaus geworfen werden, also wurden sie (bzw die 5 Aktivist_innen unter den Zeug_innen) unsanft in den Vorraum des daneben liegenden Gerichtssaales gebracht und dort bewacht. Dabei gingen die Justizbediensteten, die anscheinend auch aus der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden JVA zu Hilfe geholt worden waren nicht zimperlich mit den Menschen um, sondern warfen auch eine Person, die sie zuvor getragen hatten mal eben aus ein bis zwei Meter Entfernung auf den (Stahl)Sitz. Auf die Beschwerde, dass die Person nur durch Zufall nicht verletzt wurde kam die tief Einblick gebende Antwort: „Leider“.
Polizeizeug_innen unsicher
Die Polizeizeug_innen hatten Schwierigkeiten sich an Einzelheiten des Einsatzes zu erinnern. Zum Beispiel war nicht allen klar, um welches Thema es der Angeklagten ging (Bildungspolitik oder doch Gentechnik?), wann denn der Einsatz überhaupt angefangen hat, wer ihn wann weiter geleitet hat (das schien einem Polizeibeamten so unangenehm zu sein, dass er sogar einen roten Nacken bekam), was genau vor Ort passiert ist, ob Leute zu etwas aufgefordert wurden oder nicht, ob die Personalien genommen wurden oder nicht.
Der erste Verhandlungstag endete gegen 18:30 Uhr, da Protokollantin, Staatsanwalt und Rechtsanwalt noch andere Termine hatten. Vorher wurden noch die nicht vernommenen Zeug_innen herein gerufen um sie zu fragen, ob sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen wollten. Dies bejahten (oh, Wunder) alle Aktivist_innen, sie werden daher zum nächsten Verhandlungstag am Montag, 18.4.2011 um 14:30 wieder im Saal 768 nicht geladen. Wohl aber der noch nicht vernommene Pförtner vom BMBF und evtl. ein neu geladener Zeuge.
Es bleibt spannend.