Da zu den Vorkommnissen Am Wall bisher keine Berichterstattung erfolgte, sehen wir uns aufgefordert, mithilfe dieser Pressemitteilung auf die skandalösen Vorgänge aufmerksam zu machen.
Die Kundgebung „Am Wall“, angemeldet von zwei Mitarbeiterinnen der Courage-Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit, begann 10 Uhr mit 12 Teilnehmenden. Berechtigte Verärgerung bestand aufgrund der sehr kurzfristigen Mitteilung zur Zwangsverlegung der Kundgebung von der Ecke Bahnhofstraße/ Brückenstraße zum Wall. Der entsprechende Versammlungsbescheid wurde, wie bei vielen anderen Kundgebungen auch, erst am Vorabend ca. 19:30 Uhr zugestellt, zu spät für Nachverhandlungen bzw. für gerichtliche Kontrolle. Auf der Homepage der Stadt Chemnitz konnte man jedoch schon am Freitagnachmittag lesen, dass „die Stadt Chemnitz die von der NPD für den 5. März beantragte Alternativstrecke entlang des Innenstadtrings genehmigen“ müsse (vgl. www.chemnitz.de, PM 140 vom 04.03.2011).
Der Versammlungsbescheid hätte demnach schon viel früher zugestellt werden können. Zu Beginn der Kundgebung waren Polizeikräfte vor Ort, die der Versammlungsleitung die Rechtmäßigkeit des gewählten Ortes bestätigten. Auch Mitglieder der Versammlungsbehörde (Herr Schierle, Herr Runkel) waren am Vormittag vor Ort und hatten nichts an der Versammlung zu beanstanden. Da die Versammlungsbehörde nach eigener Aussage keine kontinuierliche Betreuung der Vielzahl von Versammlungen an diesem Tag gewährleisten könne, wurden wir aufgefordert, alle nötige Kommunikation mit der Polizei vor Ort zu führen. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da größtenteils kein einziger Polizist als Ansprechpartner vor Ort war.
Ca. 12:50 Uhr kamen aus der Richtung Roter Turm ca. 150 Menschen in unsere Richtung. Ein Teil dieser Menschen schloss sich unserer Versammlung an, während manche weiter auf die Theaterstraße gingen. Plötzlich war dann doch die Polizei wieder vor Ort und drängte mithilfe von unverhältnismäßiger und grober Gewalt die Menschen von der Straße in unsere Kundgebung. Blitzschnell wurde ein Kessel um unsere Versammlung gezogen (Polizist_innen mit Helmen sowie ca. 10 Einsatzfahrzeuge). Trotz mehrmaliger Aufforderung mussten die Versammlungsleiterinnen ca. 10 Minuten auf einen polizeilichen Ansprechpartner warten.
Dieser zweifelte die Rechtmäßigkeit der Kundgebung an und drohte damit, die Versammlung aufzulösen. Was dann geschah lässt an der Demonstrationsfreiheit und der Existenz eines Versammlungsrechtes zweifeln: ALLE im Kessel befindlichen 187 Personen wurden einzeln aus der immer noch bestehenden und genehmigten Versammlung herausgelöst, um ihre Personalien festzustellen. Anschließend wurde ihnen per Platzverweis der Rückgang in die Versammlung verboten. Die Maßnahmen wurden unter dem Vorwand durchgeführt, dass mehrere Personen aus der Gruppe straffällig geworden seien. Letztendlich wurde jedoch nur eine einzige Person in Gewahrsam genommen!
Daniel Werner vom Republikanischen Anwält_innenverein: „Die Polizeimaßnahmen waren offensichtlich rechtswidrig. Die Versammlung ist zu keinem Zeitpunkt aufgelöst worden. Die Polizei hätte also nicht nach Polizeirecht vorgehen dürfen sondern nach Versammlungsrecht vorgehen müssen. Das Versammlungsrecht sieht aber keine Einkesselung, Gewahrsamnahmen, Durchsuchungen und Personalienfeststellungen vor, sondern lediglich Auflösung und Auflagen. Die Polizei hat somit gegen Art. 8 GG, die Versammlungsfreiheit, verstoßen. Ein Polizeikessel ist zudem eine Freiheitsberaubung. Vorliegend hat der Polizeikessel ca. 2 Stunden gedauert. Gemäß Art. 104 GG hätte die Polizei die Freiheitsentziehung vom Gericht bestätigen lassen müssen.“ Der leitende Polizeibeamte vor Ort, Herr Schölzel, hat dies aber auch auf Drängen der Versammlungsleiterinnen, einer Landtagsabgeordneten und eines anwesenden Rechtsanwalts hin nicht getan. Dies ist umso schwerwiegender, da auch viele Minderjährige von der Polizei eingekesselt wurden und auch Menschen, denen es gesundheitlich schlecht ging den Kessel nicht verlassen durften. Herr Werner weiter: „Auch auf die StPO kann sich die Polizei nicht als Ermächtigungsgrundlage berufen. Seit dem Bokdorf-Urteil des BVerfG ist klar, dass nur einzeln gegen mutmaßliche Straftäter_innen vorgegangen werden darf, die unterschiedslose Personalienfeststellung einer kompletten Kundgebung ist auf gar keinen Fall möglich.“ Selbst ein Mitglied der Versammlungsbehörde zweifelte die Verhältnismäßigkeit und Rechtmäßigkeit dieser polizeilichen Maßnahmen an. Was übrig blieb: zwei lange Stunden Ohnmachtsgefühle im rechtsleeren Raum?! Die Versammlung blieb trotz starker Repression und Provokation durchweg friedlich.
Beate Wesenberg & Grit Kluge
Versammlungsleiterinnen, Courage-Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e.V.