Vor wenigen Tagen, in der Nacht zum 24. Oktober, starb unser Freund und Kollege Kamal. Zwei deutsche Rassisten haben den 19-Jährigen vor dem Hauptbahnhof mit einem Messer angegriffen und mehrfach auf ihn eingestochen. Kamal erlag kurze Zeit später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Sie wurden ihm zugefügt, weil ihn seine Mörder nicht für „deutsch“ gehalten haben – Kamal kam aus dem Irak. Wir trauern um ihn. Er ist nunmehr der sechste Mensch, der allein in Leipzig seit 1990 durch nazistisch und rassistisch motivierte Gewalt ums Leben gekommen ist, und wir werden nicht zulassen, dass Kamal hinter dieser traurigen Statistik verschwindet.
Seine Ermordung bezeugt, dass rassistische Denk- und Handlungsweisen in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind und bedrohliche Ausmaße annehmen. In einer Gesellschaft, die sich entschlossen gegen Diskriminierung und menschenfeindliche Einstellungen wendet, wäre Kamal kein Opfer geworden. Für die aktuellen Zustände jedoch betont das sächsische Antidiskriminierungsbüro (ADB): „Rassismuserfahrungen und strukturell bedingte Ausschlüsse in zentralen Lebensbereichen sind eine gesellschaftliche Realität in Sachsen“ [1], und diese Realität stellt sich denen, die als nicht-deutsch gelten, feindlich gegenüber. Die Opferberatung der RAA Sachsen ergänzt, dass körperliche Angriffe gegen Migrant_innen „lediglich ein weiteres Ereignis in der Kette ihrer täglichen Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen“ darstellen. [2] Das ist offenbar keine Übertreibung: Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weist nach, dass etwa 35 Prozent der Ostdeutschen tatsächlich ausländerfeindlich sind – mit Aufwärtstrend im ganzen Land. [3]
Ein rassistischer Mord ist vor diesem Hintergrund weder Zufall noch Ausnahme, sondern passt in das aufgehetzte Klima der laufenden Zuwanderungs- und Integrations-“Debatten“, die sich – entgegen dem moralischen Vorwand von Publizist_innen wie Thilo Sarrazin, man wolle „Tabus“ brechen – seit Jahren wiederholen. [4] Es wiederholt sich darin auch die autoritäre Forderung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrant_innen, sich laufend für ihr schieres Dasein zu rechtfertigen. Diese unverschämten Ansprüche an Migrant_innen werden von dem überwiegenden Teil der Bevölkerung mitgetragen, der sich für die Interessen und Bedürfnisse von „Ausländern“ keinen Deut interessiert und sie vorzugsweise als Störfaktor der öffentlichen Ordnung, Risiko für die innere Sicherheit und Auslöser von Kriminalität stigmatisiert.
Allein diese rassistische Konstellation ist eine Bedrohung für hier lebende Migrant_innen. Ob längst eingebürgert, nur „geduldet“ oder ohne „Papiere“: Ihnen wird der Zugang zur Gesellschaft und die Teilhabe am öffentlichen Leben systematisch verwehrt. Mehr noch, durch Verweis auf wahlweise Blut und Gene, Hautfarbe und Sprache, Pass und Arbeit, Religion und Kultur wird bereits die Eignung für diese Teilhabe vehement bestritten und die Sortierung der Bevölkerung anhand dieser Kriterien begründet. Somit bleiben auch rassistische Ideologien im Alltag relevant – jedenfalls treffen sie seltener auf Widerworte denn auf Beifall. Der Alltagsrassismus wird damit nicht nur befördert, sondern er hört auch auf, „nur“ eine Sammlung von Vorurteilen zu sein, über die man leicht aufklären kann. Wenn sich Hetzer wie Sarrazin – und er steht hier stellvertretend für seine „politische Klasse“ – aktiv bemühen, gegen Migrant_innen noch mehr Vorwände aus den Ressorts Rassekunde, Volkswirtschaft und Nationalismus starkzumachen, tut es nicht wunder, wenn jemand diese Vorwände ernst nimmt und sich am Nächstbesten vergreift.
Der staatliche Rassismus der Bundesrepublik – ob militärisch an den europäischen Außengrenzen, in Uniform von Polizei und Zoll im Inneren oder im Anzug hinter einem Behördenschalter – hat in den letzten Jahrzehnten ohnehin gezeigt, dass es hier noch nie ein Tabu war, „Ausländer“ zu erniedrigen, ihnen mit Zwangsmaßnahmen zu begegnen oder Gewalt anzutun. Dieser Rassismus ist legal – nur wo er zu Mord und Totschlag übergeht, wird er geleugnet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben daher in den Tagen nach Kamals Ermordung beteuert, es lägen keine Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv vor. Tatsächlich sind die Täter der Polizei sehrwohl als „rechtsextrem“ bekannt. Ein Pressefoto zeigt einen der Mörder sogar mit einem Pullover mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Dass überhaupt zwei Deutsche des Nachts auf Ausländerjagd gehen, ist an sich gesehen scheinbar zu „gewöhnlich“, um schon als rassistisch gelten zu können.
So jedenfalls sieht es die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die leider einzige örtliche Tageszeitung. Dort wurde der Versuch von Polizei und Staatsanwaltschaft unterstützt, die offenkundige Möglichkeit eines rassistischen Tatmotivs zu verschleiern. Stattdessen wurde am 26.10., zwei Tage nach dem Mord, deutlich darauf hingewiesen, dass „auch das Opfer“ kein „unbeschriebenes Blatt“, sondern „polizeibekannt“ sei. [5] Offenbar wollte die LVZ eine eigene Version des Tathergangs kolportieren: Wenn sich Täter und Opfer tief in der Nacht vor dem Hauptbahnhof begegnen, könnte es ein Streit unter Kriminellen gewesen sein… Dem ist aber nicht so: Kamal wohnt unweit des Hauptbahnhofs, er war auf dem Heimweg von einer Disko. Der „kriminelle“ Hintergrund ist eine Erfindung der LVZ, die aus dem verbreiteten Vorurteil, Ausländer_innen seien per se kriminell, druckreife Fakten produziert. [6]
Im Übrigen bedarf es eines besonders verhärteten Zynismus, einen rassistischen Mord mit dem Hinweis verharmlosen zu wollen, es seien „Kriminelle“ involviert gewesen, die Tat habe also „den Richtigen“ getroffen. Die Redakteur_innen der LVZ wissen sich hier im Einklang mit ihren Leser_innen, die deren Brand-Sätze in den Kommentarspalten sogleich in die ebenso frei erfundene These über angebliches „Drogenmilieu“ gesteigert haben. Nicht ungewöhnlich für die LVZ: Ende August wurde Sarrazin auf Seite 1 gehoben und vom Leitartikler mit den Worten gelobt, er argumentiere „nie in Stammtischmanier dumpf aus dem hohlen Bauch heraus, sondern beschreibt nur ungeschminkt und mit Fakten untermauert unbequeme Wahrheiten.“ [7] Dass Sarrazin mit allem „Recht hat“, bestätigten sogleich 99 Prozent (!) der LVZ-Leser_innen in einer Telefonumfrage. [8] Im Rahmen dieser Debatte hat die LVZ auch dem Moslem-Hasser und national-konservativen Publizisten Udo Ulfkotte ein Interview und damit Platz für die versprochenen rassistischen „Wahrheiten“ eingeräumt. [9]
Was in der Presse so gut wie nie auftaucht, ist eine Auseinandersetzung mit dem rassistisch geprägten Alltag, den Migrant_innen auch in Leipzig durchleben. Nur ein Beispiel sind die Planungen der Stadt aus dem vergangenen Jahr, im Stadtteil Thekla ein neues Asylbewerber_innen-Heim einzurichten. Dessen Standort sollte – laut Stadtratsmehrheit – nach explizit rassistischen Gesichtspunkten ausgewählt werden: Die Bewohner_innen sollten fernab kultureller, sozialer und Bildungseinrichtungen, außerhalb von Wohngebieten und urbanen Zentren massenhaft in „Wohncontainern“ untergebracht werden. Dagegen regte sich Protest [10] – der Plan scheiterte letztlich aber daran, dass der Stadt alle eingeholten Angebote zu teuer waren.
Auch das ist keine Provinzposse, sondern entspricht dem Trend der Bundespolitik, Migrant_innen nach ihrem „Nutzen“ für die Volkswirtschaft zu bewerten und damit umgekehrt ganze Bevölkerungsteile für minderwertig zu erklären, zu prinzipiell gescheiterten Existenzen, die man sich – zumal als Nationalist_in – vom völkischen Leib und daher aus Deutschland raus halten solle. Dass solche Argumentationen von allen Schichten der mehrheitsdeutschen Bevölkerung zumindest akzeptiert werden, zeigt, dass staatliche Politik (in Deutschland bedeutet dies eine Zuwanderungspolitik ohne Asylrecht und eine polizistische Abwehr von Migrant_innen) einerseits von den menschenverachtenden Einstellungen verhetzter Bürger_innen andererseits nicht zu trennen sind. Sie bilden den Resonanzboden, auf dem ein rassistischer Gewaltexzess erst möglich wird.
Das ist die bittere Wahrheit: Die rassistischen Täter haben in genau diesem Kontext gemordet. Und daher heißt unsere Aufgabe: Rassismus den Boden entziehen, Rassist_innen niemals und nirgends gewähren lassen. Unsere Solidarität gilt den Opfern rassistischer Angriffe, unser gemeinsamer Kampf den tagtäglichen menschenfeindlichen Zumutungen dieser Gesellschaft.
* Angst und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen!
* Kommt zur antirassistischen Demonstration: Donnerstag, 4. November, 17.30 Uhr, Südplatz
Wenn ihr nicht nach Leipzig kommen könnt, rufen wir euch zu zeitgleichen Solidaritätsaktionen in anderen Städten auf. Rassismus gibt es überall!