Interview: Isolationshaft in der Türkei

Solidaritätsbekundung (Irland)

Am 19. Dezember 2000 wurde in 20 Gefängnissen der Türkei eine ironischerweise mit „Rückkehr zum Leben“ bezeichnete Operation durchgeführt, bei der 28 Gefangene und zwei Soldaten ihr Leben verloren und hunderte Gefangene verletzt wurden. Das Ergebnis der Operation war die Verlegung der politischen Gefangenen in sogenannte F-Typ-Gefängnisse, Isolationszellen, die unter massiver Kritik stehen. Amnesty International sah die Gefahr „grausamer und erniedrigender Bestrafung“ durch Isolationshaft gegeben. Gegen die Einführung der neuen Haftanstalten protestierten Gefangene mit Hungerstreiks. Das sogenannte „Todesfasten“, welches am 20. Oktober des Jahres 2000 gegen die Eröffnung der F-Typ-Gefängnisse begann und seit dem 19. Dezember desselben Jahres für ihre Schließung fortgesetzt wird, hat bis zum heutigen Tag 107 Gefangene das Leben gekostet. - Ulaş Göçmen hat das alles erlebt und überlebt und erzählt seine Geschichte.

 

Wann und aus welchem Grund bist du verhaftet worden?

Ich bin am 28.04.1996 in Istanbul auf der Straße verhaftet worden. Bei der Festnahme haben die Polizisten mich angeschossen. Ich habe eine Niere verloren und in meinem linken Bein habe ich seither einen Nervenschaden. Eine Kugel hat mich unter dem Herz in die Brust getroffen und ist bis zur Wirbelsäule eingedrungen; sie wurde vier Jahre später operativ entfernt. Ich war in meiner Heimatstadt Gaziantep – das liegt im Südosten der Türkei an der syrischen Grenze – in der Schule politisch aktiv. Ich habe Ende 1994 Gaziantep verlassen, um zu studieren. Durch ein Telefongespräch mit meinem Vater habe ich erfahren, dass in Gaziantep die Polizei mit einer Fahndung begonnen hatte und es Hausdurchsuchungen und Verhaftungen gab und auch Menschen von der Polizei erschossen wurden. Auch mein Elternhaus haben sie verwüstet. Aus Angst, von der Polizei verhaftet oder gar erschossen zu werden, bin ich nach Istanbul gegangen, da man in der großen Stadt arbeiten und sich gut verstecken kann.

 

Was wurde dir konkret vorgeworfen?

Mir wurde vorgeworfen, in Gaziantep und Istanbul Angriffe auf Polizeigebäude und Autos verübt zu haben. Doch zum Beispiel zu den Tatzeiten in Gaziantep war ich gar nicht dort, sondern 18 Stunden entfernt in einer anderen Stadt, wo ich an diesen Tagen nachweislich gearbeitet habe.  

 

Warst du in Untersuchungshaft? Was geschah dort?

Ich war bei der Festnahme schwer verletzt und musste notoperiert werden. Schon im Krankenhaus haben Polizisten angefangen, mich zu foltern. Ich lag im Bett und konnte mich kaum bewegen, sie haben mich geschlagen, besonders auf die offenen Wunden, wo es am meisten weh tat. Elf Tage lang ging das so. Obwohl mein Gesundheitszustand danach immer noch schlecht war, wurde ich nach diesen elf Tagen zum Polizei-Hauptgebäude der Anti-Terror-Abteilung in Istanbul gebracht. Mein rechter Arm war in Gips, an Bauch und Brust hatte ich offene Wunden, mein linker Fuß war geschwollen. Sie haben mich nackt ausgezogen, mir meine Augen verbunden und mich so gefoltert. Sie wollten, dass ich ein von ihnen angefertigtes „Geständnis“ unterschreibe, das ich noch nicht einmal lesen durfte. Ich habe dort Menschen gesehen, die wie ich gefoltert worden sind und habe Schreie von Gefolterten gehört.  

 

Wie war der Prozess?

Zehn Monate nach meiner Verhaftung war meine erste Gerichtsverhandlung. Die Gerichte richten sich in ihrer Entscheidung nach dem, was die Polizei sagt, den Angeklagten wird kein Glauben geschenkt. Ich habe von der Folter erzählt, aber für die Richter war das völlig egal oder normal. Der Prozess hat sich über zwei Jahre hingezogen, ich war drei oder viermal vor Gericht.

 

Wozu bist du verurteilt worden?

Ich bin zum Tode verurteilt worden, aber die Türkei praktiziert die Todesstrafe nicht, weshalb meine Strafe zu einer lebenslangen Haftstrafe „unter strengen Bedingungen“ umgewandelt wurde.

 

In welche Art Gefängnis kamst du dann?

Ich war insgesamt sechs Jahre lang in Haft; die ersten fünf Jahre war ich in einem E-Typ-Gefängnis mit großen Schlaf- und Essensräumen für 20 bis 40 Personen. Dort konnten wir regeln, wie wir unseren Alltag verbringen wollten und wir konnten miteinander teilen, was wir an Essen, Kleidung usw. hatten. Manche von uns hatten keinen Besuch und manche mehrere Besucher, aber wir haben alles Mitgebrachte gerecht geteilt. Wir lebten sozial und teilten schöne wie schlechte Tage, wir haben zusammen gesungen und gespielt, auch einen Chor und eine Theatergruppe gebildet, selbst Theaterstücke und Gedichte geschrieben. Wir hatten tausende Bücher zur Verfügung. Einige Analphabeten haben dort schreiben und lesen gelernt. Einige Mitgefangene waren minderjährig, andere mehrfache Familienväter oder Großväter. Wir waren wie eine große Familie, unsere Tage waren fröhlich und lebendig.  

 

Warum und wann sollte die Verlegung in F-Typ-Gefängnisse stattfinden?

Wie wir im Gefängnis lebten, störte den Staat, denn politische Gefangene sollen durch die Haft kranke, hoffnungslose und unpolitische Menschen werden. Gegen unsere Solidarität setzten sie die Waffe der Isolation. Hier waren europäische Verordnungen, vor allem deutsche, für die Türkei ein großes Vorbild. Nach 1996 wurde damit begonnen, sogenannte F-Typ-Gefängnisse zu bauen, und die Stadt präsentierte diese Todeszellen wie Fünf-Sterne-Luxushotels. Aber wir wussten, was uns erwartet: Statt warmer Solidarität kalter Beton. Die politischen Gefangenen haben lange diskutiert, was man gegen die Verlegung machen kann und haben öffentlich gemacht, dass sie nicht freiwillig in Isolationshaft gehen, sondern Widerstand leisten.  

 

Was habt ihr getan, um die Verlegung zu verhindern?

Die Gefangenen hatten nicht viele Möglichkeiten zum Widerstand, sie hatten nur ihre Körper. Deshalb wurde mit einem massenweisen Hungerstreik begonnen, der in einigen Gruppen bis zum sogenannten „Todesfasten“ reichte.  

 

Wie waren die Reaktionen darauf?

Im dritten Monat des Hungerstreiks führte das Militär am 19. Dezember 2000 in über 20 Gefängnissen mit mehreren tausend schwerbewaffneten Soldaten eine Aktion durch; unsere Räume stürmten die Soldaten um 4 Uhr morgens, als alle Gefangenen im Tiefschlaf waren, mit Schüssen und Gasbomben. Um uns zu verteidigen, errichteten wir mit Betten, Schränken, Stühlen usw. Barrikaden. Wo ich damals war, in Canakkale, einer ägäischen Küstenstadt, hat der Widerstand gegen die Verlegung drei Tage gedauert. Während dieser drei Tage haben sie das Gefängnis mit Baggern und Baumaschinen ganz zerstört, mehrere tausend Schuss mit Sturmgewehren abgefeuert und fünftausend Gasbomben geworfen. Nach Angaben der Stadt wurden insgesamt, also für alle Gefängnisse, zwanzigtausend Gasbomben eingesetzt, manche davon waren für geschlossene Räume verboten, weil sie tödlich sind. Im Gefängnis in Istanbul wurden an diesem Tag mehrere Frauen durch solche Bomben ermordet, in Canakkale starben bei dem Angriff vier Gefangene. Viele wurden verletzt und beim Transport gefoltert. An diesem Tag starben auch zwei Soldaten, durch Schüsse von anderen Soldaten, wie bei der Obduktion ihrer Leichen festgestellt wurde – sie haben im Chaos aufeinander geschossen. Ende Dezember war es natürlich sehr kalt. In den Räumen aber stand bald einen Meter hoch das Wasser und der Schaum der Feuerwehr, wir waren bis auf die Haut nass. Unter Kälte und Schlägen, hungrig, mit zerfetzten Klamotten und ohne Schuhe wurden wir in die Isolationszellen gebracht. Da erst zwei Wochen vor der Verlegung die Kugel aus meinem Rücken entfernt worden war, hatte ich auch frische Wunden von dieser Operation.  

 

Schließlich also bist du doch in ein F-Typ-Gefängnis gekommen. Wie waren die Umstände dort?

Bei der Aufnahme wurden alle Gefangenen einzeln gefoltert. Man wurde nackt ausgezogen, unter Schlägen wurden Haare und Bart geschnitten. Die Zelle roch nach Beton, alle vier Wände waren weiß gestrichen. In so einer Zelle kann man sich nicht mehr als ein paar Schritte bewegen. Es gab ein Bett aus Metall, einen Schrank, einen Tisch und Stühle aus Plastik, mehr nicht. Tagelang gab es keinen Besuch, keine Zeitung, Radio oder ähnliches. Wir wussten nicht, wer von unseren Freunden überlebt hatte, wir waren von der Außenwelt abgeschnitten. Erst nach zehn Tagen habe ich eine Zeitung bekommen. Dass die Gefangenen miteinander kommunizieren, war streng verboten, ein direkter Kontakt war nicht möglich. Wir haben aber kleine Notizen über die Dächer ausgetauscht oder laut geredet und gesungen; wir konnten über die Dächer sogar unsere Kleidung mit den Gefangenen, die keinen Besuch hatten, teilen. Allein schon die Isolation macht den Menschen krank, weil er ein soziales Wesen ist und nicht jahrelang allein eingesperrt leben kann. In Isolationshaft verliert man das Gefühl für vieles, man weiß zum Beispiel irgendwann nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, weil man immer nur die Wände sieht. Ich habe über ein Jahr lang nicht ferngesehen oder Radio gehört, um an Nachrichten zu gelangen; eine Zeitung konnte man nur kaufen, wenn man Geld hatte. Das System will durch die Haft unpolitische und kranke Menschen erzeugen. Alles war beschränkt – wir durften von Besuchern zwei Hosen, zwei T-Shirts oder drei Socken erhalten. Regelmäßig wurde unsere Zelle durchsucht. Was wir unerlaubterweise hatten, wurde zerstört oder weggenommen. Was ich erlebt habe, ist in einem Interview nicht erzählbar.  

 

Aus welchem Grund hast du das „Todesfasten“ begonnen, wie lange hast du gefastet und wie erging es dir dabei?

Ich habe mich daran beteiligt, weil die Gefängnisbedingungen so unmenschlich waren. Unser Alltag war beherrscht von der Willkür der Wärter. Jahrelange Isolation ist schlimmer als der Tod. Wir Gefangenen verlangten Gemeinschaftsräume. Wir verlangten auch, dass die Verantwortlichen für die Toten vor Gericht kommen. Ich habe 256 Tage gefastet. Am Ende war ich schwer krank. Schon vor dem Todesfasten habe ich mich dreimal hintereinander, insgesamt vier Monate lang, an Hungerstreiks beteiligt. Um das Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein zu entfernen, hat der Staat ein Gesetz beschlossen, durch das viele Gefangene zum Zweck „medizinischer Behandlung“ für sechs Monate frei kamen; konnte man durch ein Attest bescheinigen, dass man weiterhin krank war, konnte man diese Zeit alle sechs Monate verlängern. Viele sind draußen gestorben, lebten mit durch das Fasten hervorgerufenen Behinderungen und Krankheiten oder haben, so wie ich, versucht das Land zu verlassen. Auch in Europa war ich unwillkommen. Mein Asylverfahren hat fast sieben Jahre gedauert, am Ende habe ich kein Asyl erhalten; mir wurde aus humanitären Gründen aber der Aufenthalt befristet erlaubt. Auch in Deutschland kam ich mir in der Zeit des Asylverfahrens eher wie ein Gefangener mit unzähligen Beschränkungen vor.  

 

Weißt du, wie die momentane Situation in der Türkei ist?

Noch immer kommt es vor, dass Menschen auf der Straße von der Polizei erschossen werden, auch in Untersuchungshaft und in den Gefängnissen sterben Menschen durch Folter oder werden erschlagen. Vor ein paar Monaten beispielsweise wurde ein kurdischer Student im Westen der Türkei von der Polizei erschossen, auch in Bodrum wurde kürzlich jemand nach der Festnahme von Zivilpolizisten erschossen. Ein im Westen zu Bekanntheit gelangter Fall ist der des Menschenrechtsaktivisten Engin Ceber, der 2008 an den Folgen der in der Haft erlittenen Verletzungen starb. Zum ersten Mal in der türkischen Rechtsgeschichte erhielten Beamte daraufhin wegen Folter mit Todesfolge lebenslange Haftstrafen – wenn sie in nächster Instanz nicht doch wieder freigesprochen werden. Sollten sie wirklich bestraft werden, wäre das für mich eine Ausnahme. Die Gefängnisse sind überfüllt, kranke Gefangene werden weder im Gefängnis ausreichend medizinisch versorgt noch freigelassen, um draußen behandelt zu werden. Es gibt viele minderjährige Gefangene, die auf Demonstrationen verhaftet worden sind. Für mich sind Gefängnisse wie Spiegel einer Gesellschaft; sie zeigen, ob ein Land ein gerechtes oder ein ungerechtes System hat. Dabei ist es egal, ob es sich um kriminelle oder politische Gefangene handelt. Ungerechte Systeme verursachen die Probleme, die beide Gruppen ins Gefängnis bringen.  

 

Ulaş Göçmen wurde am 27.8.1975 in Gaziantep geboren; nach Abschluss des Gymnasiums besuchte er ab 1994 eine Berufshochschule. Zwischen 1996 und 2002 befand er sich in verschiedenen Gefängnissen, bevor er 2003 nach Deutschland kam. Hier arbeitete er in Fabriken und im gastronomischen Bereich. Er sagt über sich: „Ich bin momentan nicht politisch aktiv, aber ich versuche wenigstens, auf Demonstrationen zu gehen, gegen den Sozialabbau in Deutschland oder für Minderheiten in der Türkei, gegen Krieg oder auch für Tierrechte.“

 

Das Interview erscheint parallel in der Amnesty International-Publikation Anklagen - zur Druckausgabe (pdf-Format).

 

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