Kurdistan/Tr.: Aufruf zur Prozessbeobachtung nach Diyarbakir

Nejdet Atalay

Strafverfahren gegen kurdischen Bürgermeister, Politiker und Menschenrechtler in der Türkei
Am 24. Dezember 2009 wurden mehr als 80 Personen im Südosten der Türkei verhaftet. Es handelte sich um Personen aus der BDP (Partei des Friedens und Demokratie), sowie Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder von NGO's.  Am 28.12 2009, wurden weitere 24 Menschen in den kurdischen Gebieten der Türkei festgenommen.


Die BDP ist die Nachfolge-Partei der vor kurzem verbotenen Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP). Die Staatsanwaltschaft wirft den Inhaftierten vor, Mitglieder der  KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) zu sein.

 

Die Repressionen gegen pro-kurdische PolitikerInnen verstärkten sich kurz nach den Erfolgen der Kommunalwahlen im März 2009 massiv. Unmittelbar nach dem Wahlerfolg wurden DTP Führungskräfte, inklusiv der Partei Vize-Präsident, in Gewahrsam genommen. Die Inhaftierten sind bis heute  nicht vor Gericht gestellt worden. Darüber hinaus hat die Staatsanwaltschaft den Grund der Anklage noch nicht bekannt gegeben.

 

Bisher wurden rund 1500 kurdische Politiker, darunter DTP Führungskräfte und Mitglieder festgenommen. Nach 16 Monaten wird die erste Verhandlung vor dem Gericht am 18. Oktober 2010 in Amed (Diyarbakir) stattfinden.


Für eine Solidarität mit den Inhaftierten Vorort hat sich eine Vorbereitungsgruppe für eine Delegationsreise gebildet. In der Vorbereitungsgruppe sind: Murat Cakir, Gülten Kelloglu, Melike Yasar, Ibrahim Isik, Rusen Turgut

Wir wünschen uns, dass die europäische Öffentlichkeit über diesen Prozess informiert wird. Mit unserer Solidarität und Anwesenheit  am ersten Prozesstag in Amed, werden wir viel dazu beitragen.

Unterstützen wir die Initiativen in der Türkei für die Freilassung der Inhaftierten und für eine politische Lösung der kurdischen Frage!

Wer an der Delegationsreise teilnehmen möchte, kann sich unter der folgenden Adresse an die Vorbreitungsgruppe wenden: soli.delegation@googlemail.com



Hintergrund:

Informationsdossier über den inhaftierten Bürgermeister der Stadt Batman Nejdet Atalay und seine erste Gerichtsverhandlung am 18. Oktober 2010
 
Die sogenannte KCK (Konföderation der Gemeinschaften von Kurdistan) Operation, die am 14.4.2009 kurz nach dem äußerst erfolgreichen Abschneiden der DTP (Demokratische Gesellschaftspartei) im Südosten und Osten der Türkei bei den Kommunalwahlen begann und ununterbrochen bis zum 24. Dezember 2009 weiterging, richtete sich nicht nur gegen kurdische Politiker_innen und Menschenrechtsaktivist_innen, sondern auch gegen Mitglieder der Kommunen und die demokratisch gewählten Bürgermeister der DTP. Die Zahl der Inhaftierten dieser Verhaftungswelle hat inwzischen die Zahl 1500 überschritten. Unter ihnen befinden sich sieben am 24. Dezember 2009 inhaftierte Bürgermeister. Nach einer langen U-Haft soll nun 151 der über 1500 Inhaftierten werden am 18. Oktober 2009 das Gericht eröffnet werden. Sie werden beschuldigt, Mitglieder der KCK zu sein.
 
Nejdet Atalay, der Bürgermeister von Batman, ist einer der am 24.12.2009 inhaftierten Bürgermeister. Auch er wird am 18. Oktober 2010 vor Gericht gestellt werden. Nejdet Atalay wurde mit 60% der Stimmen der im Südosten liegenden 313.000 Einwohnerstadt Batman gewählt. Mit großen Ansprüchen in das Amt gewählt, konnten in relativ kurzer Zeit viele Projekte zur Veränderung des Gesichts der Stadt angestoßen werden. Trotz Schikanen und Hürden seitens staatlicher Autoritäten war er bestrebt - wie seine Vorgänger von der gleichen Parteitradition – eine funktionierende Infrastruktur für Batman aufzubauen. Inhaftiert wurden neben dem Bürgermeister auch drei Stadtparlamentsabgeordnete von Batman, die eine wichtige positive Rolle in der Stadtverwaltung hatten. Diese Inhaftierungen haben eine negative weitergehende Auswirkung auf die Arbeit der Stadt Batman.
 
Die neunmonatige Inhaftierung von Nejdet Atalay steht zu geltenden Gesetzen in Widerspruch. Ohne eine konkrete Beweislage einen im Amt stehenden Bürgermeister zu inhaftieren, von dem zudem nicht die Flucht (ins Ausland) erwartet wird, ist politisch motiviert. Nach der Rechtssprechung des EuGMR muss die Festnahme und Inhaftierung von solchen Personen durch einen Richter autorisiert werden. Weiterhin sollte nicht vergessen werden, dass die Inhaftierung vor der Gerichtsverfahren ein erheblicher Eingriff in das grundlegende Recht auf Freiheit ist und als eine Ignorierung der goldenen Regel, wonach jeder Mensch solange unschuldig ist bis seine Schuld bewiesen ist, dargestellt werden kann. In diesem Fall ist dies dadurch verstärkt, dass es keine Gründe gibt, warum eine Freilassung auf Kaution verweigert wird. Deshalb kann argumentiert werden, dass es sich hierbei nicht nur um eine exzessive Anwendung staatlicher Gewalt gegenüber demokratische gewählte Personen, sondern um auch eine Bestrafung ohne eine Rechtssprechung handelt. In der Tat ist es bei näherer Betrachtung des Haftbefehls von Nejdet Atalay eindeutig, dass er vom Gericht nicht gehört und somit nicht das Recht auf Verteidigung gegeben wurde.
 
Die Anklagepunkte basieren auf politische Aktivitäten, die Nejdet Atalay durchführte. Die DTP hat sich als eine legale politische Partei aufgebaut. Nejdet Atalay war vor der Wahl ins Bürgermeisteramt der DTP-Vorsitzende der Provinz Diyarbakir. Er beteiligte sich an den verschiedenen Aktivitäten der DTP, die alle in Einstimmung mit bestehenden Gesetzen stehen. Die Anklageschrift betrachtet diese legalen und demokratischen Aktivitäten (u.a. Kampagnen) in und ausserhalb von Wahlperioden als ein kriminelle Tätigkeit und illegale Propaganda von illegalen Organisationen. Somit wird das Recht auf Protest und Meinungsfreiheit als eine Straftat im Sinne von „Leitung einer (illegalen) Organisation durch die Durchführung seiner Aktivitäten“ betrachtet.
 
Atalay hat niemals eine Rede gehalten, welche die Gewalt beinhaltet hat. Vielmehr sprach er auf eine pazifistische und friedliche Weise während seiner ganzen politischen Karriere. Trotzdem wird Atalay angeklagt, eine illegale bewaffnete Organisation geleitet und dafür Propagande gemacht zu haben. Die im Verfahren von Atalay als straftatbedürftig betrachteten Elemente bestehen aus legalen und demokratischen Aktivitäten nach dem internationalen Rechtsnormen wie die Kopenhagener Kriterien, die auch von der Türkei unterschrieben wurden. Zum Beispiel werden Demonstrationen, Kundgebungen, Pressekonferenzen und öffentliche Veranstaltungen als Straftaten bezeichnet. Ein Beispiel für diese aufgeführten Proteste in der Anklageschrift ist der Protest während des Diyarbakir Besuchs des Ministerpräsidenten Erdogan – zu dieser Zeit war Nejdet Atalay der DTP Provinzvorsitzende von Diyarbakir. Die dabei geäußerten „Forderungen nach Gerechtigkeit und das Recht auf Protest“ werden als Straftaten bezeichnet. Daraus ist es abzuleiten, dass jede Art von Forderung seitens der KurdInnen als eine kriminelle Aktion einer bewaffneten Organisation betrachtet wird. Dadurch werden die demokratischen Rechte und Aktivitäten der KurdInnen kriminalisiert. Keine Waffen, kein Arsenal oder irgendwelche Gegenstände wurden bei Nejdet Atalay gefunden oder mit ihm in Verbindung gebracht. Trotzdem wird er als eine Person behandelt, die illegale Aktivitäten gesteuert hätte.