„Kolumbien versucht, politische und soziale Konflikte militärisch zu lösen.“

Hernando Calvo Ospina

Interview mit Hernando Calvo Ospina

Der Publizist und Buchautor Hernando Calvo Ospina ist in Kolumbien geboren und lebt seit einigen Jahren in Paris, wo er unter anderem als Redakteur von Le Monde Diplomatique tätig ist. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Pablo Escobar und die Kokain-Connection; Salsa, Havana Heat Bronx Beat; Rum, Bacardi: Die CIA und die Globalisierung und Kolumbien. Hinter der Nebelwand. Geschichte des Staatsterrorismus*. Manola Romalo sprach für Hintergrund mit Hernando Calvo Ospina.

 

Manola Romalo: Anfang Juli, während seines offiziellen Besuchs in Berlin, hat der am 8. August gewählte kolumbianische Präsident Manuel Santos behauptet, dass die Erfolge seines Vorgängers Alvaro Uribe hinsichtlich der „demokratischen Sicherheit“ ihm erlauben werden, die Arbeitslosigkeit und die Armut zu bekämpfen. Um welche Erfolge handelt es sich dabei?

Hernando Calvo Ospina: Während seines Präsidentschaftswahlkampfs bot Uribe an, mit der Guerilla (Synonym für die „Aufständischen“, Anm. der Autorin), in den ersten sechs Monaten fertig zu werden. Abgesehen von dem Tod einiger ihrer Leiter und Funktionäre, verfügen die Aufständischen auch nach acht Jahren über eine intakte Struktur und befinden sich weiterhin in Kolumbien, wie das Internationale Rote Kreuz in seinem Jahresbericht von 2010 bestätigte. Seit 1964, als zum ersten Mal versucht wurde, ein Bollwerk von 50 Bauern und Bäuerinnen zu erobern, die Frieden und Landbesitz verlangten, kündigen alle Präsidenten an, die Guerilla militärisch besiegen zu wollen. Trotz der riesigen Militärhilfe der USA und der 16.000 Soldaten der kolumbianischen Streitkräfte, wurde diese Gruppe nicht geschlagen: Aus ihr entstand die FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens).

Man versuchte vorrangig einen politischen und sozialen Konflikt mit militärischen Mitteln zu lösen. Am Ende jeder Amtszeit eines Präsidenten waren die Guerillas noch stärker, weil die Staatsgewalt sich in erster Linie gegen die zivile Bevölkerung richtet. Deshalb steht Kolumbien – laut NGOs und anderer internationaler Organisationen – seit den 1980er Jahren weltweit an erster Stelle bezüglich der Menschenrechtsverletzungen.

Dieser Staatsterrorismus stellt Kolumbien an die zweite Stelle was die Zahl der Vertriebenen angeht, (ca. 4 Mio. Personen), an die erste Stelle bezüglich der Gefangenen und Vermissten. Darüber hinaus ist Kolumbien das Land mit den meisten ermordeten Gewerkschaftern. Diese Gründe als auch die Zunahme der extremen Armut – Kolumbien ist der zweite Staat des Planeten mit der größten sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit – führen junge Menschen direkt in die Arme der Guerilla, weil der Staat ihnen als einzige Option die Möglichkeit gibt, sich von den Streitkräften oder von ihren paramilitärischen Truppen ermorden zu lassen, vor Hunger zu sterben oder zu den Waffen zu greifen. Gut, sie haben noch die Möglichkeit sich an Drogenkartellen zu beteiligen.

Deshalb konnte und kann die sogenannte „demokratische Sicherheit“ mit ihrer Strategie, wie sie mit der Guerilla fertig werden will, keine Früchte tragen. Die Regierung von Uribe hat die Gewalt und die sozialen Ungleichheiten vertieft. .

Manola Romalo: Aus welcher sozialen Schicht stammt Präsident Manuel Santos?

Hernando Calvo Ospina: Der neue Präsident Santos stammt aus der großen traditionellen Oligarchie, die gleiche, die in den 1950er Jahren die politische Gewalt usurpierte. Was Santos versuchen wird, ist dieser Gruppe die ökonomische und politische Macht zurückzugeben, die sie zugunsten der neuen Oligarchie fast verloren hatte. Diejenige Oligarchie, die mit dem Drogenhandel auftauchte und deren Vertreter Alvaro Uribe war.

Manola Romalo: In der „Tagesschau“ vom 22.  Juli, im Kontext der Anschuldigungen Kolumbiens gegen Venezuela, teilte der Korrespondent für Lateinamerika seinen Zuschauer mit: „Tatsächlich lassen die Videoaufnahmen keinen Zweifel an der wohl seit Jahren geduldeten Existenz der FARC-Lager in der grenznahen Dschungelregion zu.“ Welche Beweise gibt es dafür?

Hernando Calvo Ospina: Stellen wir klar, dass keine einzige internationale Institution, angefangen mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die „Beweise“ der kolumbianischen Regierung ernst genommen hat. Nur die großen internationalen Massenmedien, diejenigen die das von Washingtoner und Madrider Agenturen Redigierte wiedergeben, haben das Ganze als „wahrheitsgetreu“ präsentiert. Die Fotos, die die kolumbianische Regierung über angebliche Lager der FARC-Guerilleros (Aufständischen) zeigte, kann man in jedem Park in Paris oder New York während eines Familien-Grillfestes machen. Jeder Mensch mit einem Mindestmaß an Logik, der sich die Fotos anschaut, kann das feststellen. Umso mehr ein Journalist, wenn er etwas Berufsethik besitzt. Die Satelliten-Koordinaten fabriziert man. Der von israelischen und nordamerikanischen Experten beratenen kolumbianischen Regierung fällt das sehr leicht.

Aber diese „Beweise“ und die Art, wie die großen Medien darüber informierten, indem sie sie als „Realität“ angaben ohne sie zu überprüfen, haben Washington und seinen Alliierten genutzt, um den gar nicht geschätzten Präsidenten Chávez weiter anzugreifen, in ihrer Bestrebung ihn zu stürzen oder zu ermorden. Weil der wirkliche Feind das von Chávez geleitete alternative Projekt ist, welches den Hinterhof der Vereinigten Staaten „desorganisiert“ hat.

Manola Romalo: Uribe hat einen potentiellen kriegerischen Konflikt mit Venezuela generiert. Der gewählte Präsident Santos scheint aber die Beziehungen mit der Schwesternation verbessern zu wollen. Nur vier Tage nach seiner Amtseinführung hat er Präsident Chávez nach Santa Marta eingeladen. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

Hernando Calvo Ospina: Ich behaupte weiterhin, dass Präsident Chávez ein übermäßig großes Herz hat. Er ist einer der wenigen Katholiken, die im Stande sind, die andere Gesichtsseite hinzuhalten, damit sie geschlagen wird. Als Santos Verteidigungsminister war, hat er im Auftrag Washingtons zahlreiche Attentate gegen das Leben des venezolanischen Staatschefs vorbereitet.

Während Santos Mandatschaft drangen hunderte Paramilitärs illegal nach Venezuela, um einen Putsch durchzuführen. Alle Aktionen waren mit Washington und der venezolanischen Opposition koordiniert. Und mit diesem gleichen Minister wurden zahlreiche Kokain-Hauptausfuhrwege in die USA und nach Europa umzingelt … aber die nördliche Grenze zu Venezuela offen gelassen. Dieser Drogenhandel war und ist nach wie vor in den Händen der Paramilitärs. Dessen Erlöse nutzen – außer der Bereicherung weniger – dazu, den schmutzigen Krieg gegen die Volksbewegungen zu finanzieren. Genauso wie die Sonderkommandos der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren in Vietnam handelten und in Nicaragua in den 1980er Jahren gegen die sandinistische Regierung.

Aber heute ist Santos daran interessiert, die Beziehungen mit Venezuela zu verbessern um den Handel wiederherzustellen, weil die kolumbianische Industrie jährlich ca. 7 Milliarden Dollar verliert. (Im Originaltext: 7 Tausend Millionen Dollar.)

Manola Romalo: Was  war das Ziel des Präsidenten Chávez bei diesem Treffen?

Hernando Calvo Ospina: Indem er Santos traf, wollte Präsident Chávez beweisen, dass nicht er derjenige ist, der Kolumbien angreift – trotz der von Uribe und den internationalen Medien jahrelang betriebenen Kampagne, die den venezolanischen Staatschef als Teufel in Person ausmalte. Venezuela braucht Kolumbien gewiss nicht, da es viele Länder gibt – vor allem Brasilien und Argentinien – die bereit sind, ihm die Waren zu liefern, die Kolumbien notwendigerweise verkaufen muss. Auf jedem Fall weiß Präsident Chàvez, dass Kolumbien von Washington beauftragt ist, seine Regierung zu destabilisieren und sogar sein Leben zu beenden. Das ist aber wahnsinnig, weil Venezuela ca. 4 Millionen Immigranten aus Kolumbien Arbeit und Schutz gibt. Venezuela anzugreifen oder Chávez zu ermorden würde einen regionalen Krieg auslösen, bei dem nur die Waffenindustrie gewänne.

Jetzt überlegt vielleicht Washington den Destabilisierungsprozess gegen Chávez im Moment ruhen zu lassen, da sie im Krieg gegen Iran ziehen will …

Manola Romalo: Im Juli haben kolumbianische Kongressabgeordnete, NGOs  und 21 EU-Parlamentarier in der Region von Macarena einen geheimen Friedhof mit ca. 1.500 Opfern der kolumbianischen Streitkräfte entdeckt. Dieser Gemeinschaftsgraben befindet sich in der Nähe einer Armee-Brigade, die finanzielle Hilfe von den USA erhalten hatte. Werden diese Enthüllungen strafrechtliche Folgen für Uribe haben?

Hernando Calvo Ospina: Das ist ein anderes Verbrechen, für das Uribe vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag enden könnte. Wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es bereits zahlreiche Anklagen gegen ihn. Aber vergessen Sie nicht, dass für viele dieser Verbrechen der neue Präsident, als er Verteidigungsminister war, die Verantwortung trägt.

Das Unlogische dabei ist, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen Uribe als Vizepräsidenten der Kommission nominierte, die den Angriff des israelischen Kommandos gegen die Flotte, die den Palästinensern im Gazastreifen humanitäre Hilfe bringen wollte, untersuchen wird. Erinnern wir uns: Während des ungeheuerlichen Angriffs starben neun ungeschützte Menschen und viele sind verwundet worden. Es ist unlogisch, weil Israel ein großer militärischer Verbündeter Kolumbiens ist. Zum Beispiel: Ein israelischer Ex-Kommandant aus dem Gazastreifen berät heute den Militärischen Geheimdienst Kolumbiens. Nach den Vereinigten Staaten ist Israel weltweit der wichtigste Verbündete Kolumbiens.

Manola Romalo: Mit einem Budget von 1,6 Milliarden Dollar haben die USA 1999 den „Plan Colombia“ eingeführt um gegen den „Drogen-Terrorismus“ zu kämpfen. Mit welchen Ergebnissen?

Hernando Calvo Ospina: Die Ausrede des „Plan Colombia“ war der „narco-terrorismo“. Aber in Wirklichkeit haben sich Produktion und Kokain-Handel fortgesetzt, auch und gerade in dem nicht von der Guerilla kontrollierten Gebiet. Wenn man ehrlich ist, fällt es schwer zu glauben, dass hunderte Tonnen von Kokain, die in die USA gehen, von der Guerilla stammen. Wenn es so wäre: Weshalb beschlagnahmt man sie nicht?

Der „Plan Colombia“, der bis heute ungefähr 10 Milliarden US-Dollar verschlungen hat, war ein gegen die Aufständischen gerichtetes Projekt. Die US- Militärindustrie und, in kleinerem Maße diejenige Israels, haben das ganze Geld für sich behalten. Kein einziger Cent der von den Vereinigten Staaten oder von der Weltbank eingebrachten Gelder ist jemals direkt in kolumbianischen Händen angekommen: Alles wurde vom Pentagon und vom US-Außenministerium verwaltet.

 

Das Interview ist zuerst erschienen auf hintergrund.de am 27. August 2010.

 


 

Ein Auszug der Bücher Hernando Calvo Ospinas:

  • Pablo Escobar und die Kokain-Connection, (EPO, Anvers, 1994)
  • Salsa, Havana Heat Bronx Beat, (LAB, London, 1995)
  • Dissidenten oder Söldner? Aus den USA und Europa um Cuba zu brechen, (EPO, 1998)
  • Rum, Bacardi: CIA und die Globalisierung, (EPO, 2000)
  • Mit einer Cuba-Melodie, (Le Temps des Cerises, Paris, 2005)
  • Kolumbien. Hinter der Nebelwand. Geschichte  des Staatsterrorismus, (Le Temps des Cerises, Paris, 2008)
  • Die Schock-Mannschaft der CIA, (Le Temps des Cerises, Paris, 2009)