Wolfgang Kraushaar hat wieder etwas zur Geschichte des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik veröffentlicht. »Die blinden Flecken der RAF« heißt sein neuestes Buch. Wer hofft, hier etwas Konstruktives über die komplexen Strategie- und Politikprobleme dieser kleinen Gruppe der außerinstitutionellen Linken zu erfahren, wird enttäuscht.
Wie schon in seinen früheren Schriften zum Linksradikalismus der 1970er Jahre wirkt hier der Politikwissenschaftler, der in dieser Zeit in der Frankfurter Gruppe »Sozialistische Hochschulinitiative« agierte, eigentümlich abwesend. Nichtsdestotrotz möchte er »nach so langer Zeit noch einmal Verbrechen unter die Lupe« nehmen, wie er gleich im Vorwort offenherzig bekundet. Zu Verbrechen gehören natürlich immer auch Verbrecher, und Kraushaar spart hier nicht mit einer Vielzahl von Verdächtigungen gegen eine Reihe damaliger Protagonisten. Selbst Otto Schily, der formidable Anwalt von Gudrun Ensslin und spätere SPD-Hardliner, gerät ihm ins Visier. Schily war schon im Sommer 1972 erfolglos von der Springer-Presse verdächtigt worden, einen Kassiber seiner Mandantin aus der Haftanstalt geschmuggelt zu haben. Kommissar Kraushaar nimmt hier erneut die Ermittlungen auf, aber das Ergebnis soll hier nicht verraten werden.
Nicht gut zu sprechen ist Kraushaar auch auf seinen ehemaligen Waffenbruder Karl Dietrich Wolff, der 1968 Vorsitzender des SDS war. Aufgrund von dessen Bekanntschaft mit Wilfried Böse, der 1976 als Mitglied der Revolutionären Zellen bei der Flugzeugentführung einer Air-France-Maschine in Entebbe erschossen wurde, versucht er in einem langen Kapitel, Wolff mit der Tat in Verbindung zu bringen. Ohne Wolff könne Böses Vita »weder in ideologisch-weltanschaulicher noch in sozialer kontaktvermittelnder Hinsicht« verstanden werden, glaubt Kraushaar. Ist das schon komisch formuliert, so zeugt auch Kraushaars wichtigster Beleg für diese Unterstellung von einer gewissen Angestrengtheit des Verfassers. Er beruft sich auf eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Antiimperialistischer Kampf – Materialien & Diskussion. Dieses »im Querformat produzierte Blatt« soll für zehn Ausgaben im Frankfurter Verlag Roter Stern, den Wolff gegründet hatte, erschienen sein, schreibt Kraushaar und breitet auch einige Themenschwerpunkte aus: »Das erste Heft war der Spaltung der Black Panther Party und den Problemen der schwarzen Militanten in den USA gewidmet, das Doppelheft 2/3 der Solidarität mit den Black Panther, das sechste beschäftigte sich mit der Palästinenser-Organisation Schwarzer September, die 1972 während der Olympiade in München die israelische Nationalmannschaft überfiel, das siebte mit der japanischen Guerillaorganisation Rote Armee, das achte mit den Tupamaros in Uruguay und das zehnte mit der Situation von Palästinensern in den Flüchtlingslagern und dem palästinensischen Widerstand.«
Im Kriminaljargon weiß Kraushaar hier zu insinuieren, dass diese Fragestellungen »Wolff & Co bestimmt nicht nur aus verlegerischen Gründen interessiert haben dürften«, mehr noch: »Im Grunde genommen war das kaum etwas anderes als die Hinführung zum Thema Terrorismus, selbstverständlich auf einer rein theoretischen Ebene.« Es sind wohl auch Urteile wie diese, die einen prominenten RAF-Romancier wie Stefan Aust Kraushaar eine »glasklare Analyse« bescheinigen lassen, wie auf dem Rücktitel des Buches nachzulesen ist.
In den Recherchen zu dem von mir im vergangenen Jahr herausgegebenen Buch »Legenden um Entebbe« habe ich wie verrückt nach der zehnten Ausgabe der besagten Zeitschrift gesucht, die in dreizehn deutschsprachigen Bibliotheken verzeichnet ist. Die meisten nachgewiesenen Exemplare befinden sich im Hamburger Institut für Sozialforschung, an dem Kraushaar arbeitet. Doch leider war auch hier ab der im Mai 1974 publizierten achten Ausgabe zu den Tupamaros Schluss. Gerade die Diskussion in Heft zehn zu der »Situation von Palästinensern in den Flüchtlingslagern und dem palästinensischen Widerstand« hätte mich sehr interessiert. Doch im Unterschied zu Kraushaar habe ich dieses Heft leider nicht eingesehen.
Genosse Wolff hat mir nun eine überzeugende Erklärung für meine Rechercheprobleme gemailt: »Nr. 9 und Nr. 10 (die in Nr. 8 angekündigt waren) sind nicht erschienen.« Der Antiimperialistische Kampf wurde auch erst ab der sechsten Ausgabe vom Verlag Roter Stern verlegt. Und die vorherigen Ausgaben wurden auch nicht im Querformat, wie Kraushaar seine Leser informiert, sondern im konventionellen Format einer DIN-A4-Broschüre publiziert. Ob es denn wohl sein kann, das der vom Klett-Cotta-Verlag als »bester Kenner dieser Zeit« gerühmte Forscher die von ihm vorgestellten Ausgaben dieser Zeitschrift gar nicht in Augenschein genommen hat? Ein Quellenfuchs und Wunderhistoriker, der zu weitreichenden Urteilen gelangt.