Leipzigs OB Burkhard Jung im Interview "Die Geister, die ich rief"

Erstveröffentlicht: 
17.07.2017

Es sind Ferien und auch für Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung geht es nun endlich in den verdienten Sommerurlaub. Kurz bevor er abreist, hat sich das Stadtoberhaupt den Fragen von MDR SACHSEN gestellt.

 

Als OB haben Sie ja gut lachen. Stadtoberhaupt einer bundesweit beachteten Boomtown zu sein, kein schlechter Job. Worauf sind Sie besonders stolz?

Burkhard Jung:
Auf die demografische Entwicklung, weil sie in besonderer Weise zeigt, wie die wirtschaftliche Situation, wie das Image ist. Menschen gehen dahin, wo die Arbeit ist, wo es interessant und attraktiv ist. 100.000 Menschen mehr in dieser Stadt in den letzten zehn Jahren ist ein Beleg für die Attraktivität und die Entwicklung.

 

Diese Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten. Gerade der besondere Charme dieser Stadt könnte dadurch zerstört werden.

Burkhard Jung:
In der Tat!

 

Die Geister die ich rief, werde ich nicht mehr los! Durch eine größere Verdichtung gibt es Verdrängung.

 

So lange Plätze und Räume da sind, zieht die Karawane weiter. Also nach Connewitz kam Plagwitz, nach Plagwitz kam Lindenau. Das funktioniert so lange gut wie Räume da sind. Jetzt sind wir in der Tat an einem Punkt, wo die Entwicklung Wachstumsschmerzen produziert und zum anderen Verdrängungsmechanismen auslöst. Es wird nicht ausbleiben, dass in dem Prozess der Attraktivität sich Menschen neu einrichten müssen.


Wir versuchen gegenzusteuern, indem wir über Stadtteilkultur alternative Genossenschaftsformen, alternative Formen des Wohnens fördern, Vereinsförderung betreiben, um das bunte kulturelle Leben im Stadtteil zu organisieren. Wir geben über Fördermöglichkeiten, auch von der EU, Geld in benachteiligte Stadtgebiete, um dort öffentliche Räume und öffentliches Leben zu fördern.

 

Aber je mehr die Stadt boomt, umso größer wird der Druck auf die alternativen Lebensformen, die Leipzig gerade so attraktiv machen.

Hat die Stadt das Wachstumstempo unterschätzt und Entwicklungen verschlafen?


Burkhard Jung: Das Tempo unterschätzt haben wir alle, ja, aber wir haben die Entwicklung nicht verschlafen. Es ist wirklich in einer Art und Weise passiert, wie uns kein Wissenschaftler das jemals vorgerechnet hat. Niemand konnte voraussehen, dass es so stark und so schnell vorangeht. Hinzukommt, was bis jetzt keiner erklären kann, warum wir so viel mehr Kinder haben. Das heißt, wir haben eine deutlich höhere Geburten- als Sterberate und das ist bis jetzt noch ein Phänomen. Noch vor zehn Jahren hatten wir 4.000 Geburten, jetzt sind es 6.800.

 

Wohnraum - vor allem bezahlbarer Wohnraum - wird auch in Leipzig knapp. Ein Thema für Sie?


Burkhard Jung: Wohnen wird das Megathema der nächsten zehn Jahre. Die Wahrheit ist: Im Bestand ist die Miete noch immer sehr überschaubar. Im Erstbezug schießt sie durch die Decke. Um das in Zahlen zu äußern: Im Bestand haben Sie noch immer Mieten um fünf Euro, beim Erstbezug sind sie in bestimmten Lagen bei 12, 13, 14 Euro. Das ist die Spanne – und diese Entwicklung wird weitergehen. Das heißt, nur durch ein weiteres Angebot auf dem Markt werden wir die Kostenentwicklung dämpfen können und durch die Sozialraumbindung müssen wir versuchen, die Mischung in den Stadtteilen zu erhalten.


Auf der anderen Seite ist es dringend notwendig, dass die Mieten steigen, damit sich Investments überhaupt wieder lohnen. Für vier Euro baut keiner. In diesem Dilemma befinden wir uns. Das heißt, wir versuchen jetzt, den Wohnungsmarkt anzukurbeln,  indem wir neue Flächen ausweisen, durchaus auch in Kooperation mit unserem regionalen Umfeld. Es tut uns nicht mehr weh, auch Eigenheimbesitzer zu haben, die in Torgau oder Delitzsch wohnen und bauen, es muss nicht jeder in Leipzig bleiben.

 

Aber wir sind gut beraten, über die soziale Wohnraumbindung die Mietpreisentwicklung zu dämpfen.

 

Und wie will das die Stadt umsetzen?


Ich habe folgendes Ziel: Alle Wohnanlagen - neugebaut - mit über 100 Wohnungen sollen mit 30 Prozent sozial gebunden werden. Sprich: Es baut ein Investor eine Mietwohnungsanlage mit 100 Wohnungen, davon werden 30 Wohnungen sozial gestützt und subventioniert, damit die Mietkosten dort nicht über sechs Euro liegen. Das ist der Versuch einer Mischung, damit der Geringverdienende genauso eine Chance hat, in einer neuen Wohnung zu wohnen, wie derjenige, der sich vielleicht 8,50 Euro oder 9,50 Euro leisten kann.  

Das heißt, der Staat muss hier ein Stück mitabfedern, damit wir Menschen nicht ausgrenzen. Ein Anfang ist ja mit dem sozialen Wohnungsbauprogramm des Freistaats gemacht. Aber zur Wahrheit gehört: : Wir schaffen pro Jahr etwa 200 Wohnungen zu unterstützen. Denn wir brauchen jedes Jahr etwa 2.000 Wohnungen, davon müsste ein Drittel gestützt werden, also ca. 650.

 

Wir brauchen mehr Geld im System.

 

Zur Zeit macht Leipzig Schlagzeilen als "linksradikale Hochburg" mit rechtsfreien Räumen. Was sagen Sie dazu?


Burkhard Jung: Ich bezweifle erst einmal, dass es rechtsfreie Räume gibt. Sollten es sie geben, dann ist es die Aufgabe der Polizei dafür zu sorgen, dass sie wieder hergestellt werden. Ich kann mich nur wundern über diese Aussage.

Natürlich haben wir Probleme mit linken Gewalttätern und mit anarchistischen Kriminellen. Und das nehme ich sehr sehr ernst. Da sind unser Verfassungsschutz und unsere Polizei gefordert, dem entgegenzutreten. Da kann die Stadt rein gar nichts tun. Wir haben keine Polizeigewalt.

Ich glaube, dass wir gut daran tun, auch die besondere Atmosphäre unserer Stadt zu pflegen. Wir möchten ja eine Stadt sein, die offen ist, die freiheitlich ist, die Menschen auch ein Versprechen gibt: Du kannst hier glücklich werden, solange Du Dich der Gewaltfreiheit verpflichtest. Und das fordern wir als Stadt sehr wohl ein. 

Es kann nicht sein, dass man über zehn Jahre Polizeikräfte reduziert, in einer Stadt, die um 100.000 Menschen wächst, und heute weniger Polizei hat als vor zehn Jahren. Das kann kein Mensch begreifen. Kurzum:

 

Ich verlange vom Freistaat, dass er mit Verfassungsschutz und Polizei für rechtssichere Räume sorgt. Unsere Aufgabe als Stadt Leipzig ist es, dafür zu sorgen, dass diese Stadt frei, bunt, tolerant und lebenswert bleibt.

 

Die G20-Krawalle schlagen noch immer hohe Wellen. Was sagen Sie zur der Diskussion?


Burkhard Jung: Was wir brauchen, ist eine differenzierte Betrachtung. Was macht ein soziokultureller Club? Wer ist dort Akteur? Wie ist die Szene überhaupt zu betrachten, was heißt alternative Lebensform und wo beginnt Kriminalität und wo hört sie auf?

 

Diese ganze Differenzierung geht momentan verschütt'. Da wird irgendwas rausposaunt, da wird irgendein Quatsch und Unsinn erzählt von Menschen, die überhaupt nichts davon wissen.

 

Ich glaube, wir in Leipzig können zeigen, wie man damit umgeht. Wir sind viel weiter als die öffentliche Debatte, die in der Bundesrepublik gerade abläuft. Die Rote-Flora-Debatte in Hamburg und eine Conne-Island-Debatte in Leipzig, die führen wir schon seit Jahren.

 

Ich würde mir wünschen, dass wir wegkommen aus dieser holzschnittartigen Polarisierung – links und rechts – da wird alles in einen Topf geworfen.

 

Es gibt ein Anti-Gewalt-Bekenntnis der Clubs in Leipzig von 2015. Das Conne-Island hat unterschrieben, nur im Rahmen des Grundgesetzes zu agieren. Alles egal, da wird irgendwas rausposaunt auf Bundesebene. Entschuldigung, de Maizière, den ich sonst schätze, hat sich im Ton vergriffen.

 

Sie haben jetzt Urlaub. Wo geht’s hin?


Burkhard Jung: Ich freue mich wirklich sehr – es geht in Richtung Italien – aber wir werden uns auch auf Rügen bewegen. Drei Wochen Urlaub am Stück, das hatte ich seit 20 Jahren nicht mehr, aber ich glaube, das darf auch mal sein.

 

Herr Oberbürgermeister Burkhard Jung, vielen Dank für das Gespräch.