Merkels Versprechen bleibt unerfüllt

Erstveröffentlicht: 
27.06.2017

Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss beendet Arbeit – Petra Pau (LINKE) plädiert für weitere Recherchen

 

Anfang 2012, der NSU war ein paar Monate zuvor fast zufällig aufgeflogen, versprach Angela Merkel den Angehörigen der Opfer eine vollständige Aufklärung der beispiellosen Verbrechen. Die Regierung und ihre Behörden haben das Versprechen nicht gehalten. Bringt der Abschlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses mehr Aufklärung?

 
Im Detail ja, grundsätzlich nein. Der zweite Bundestagsuntersuchungsausschuss sah sich viel größeren Blockaden ausgesetzt, als das beim ersten der Fall war. Das Kanzlerin-Versprechen einer schonungslosen Aufklärung bleibt bislang also unerfüllt. Angela Merkel wurde durch Ministerkollegen und Behördenleitungen in den Meineid getrieben. Allerdings hat sie selbst dagegen nichts getan. Sie hätte dafür sorgen müssen, dass alles, was bei den Behörden als Wissen vorhanden ist, auf den Tisch kommt. Sie hätte über die im Kabinett Verantwortlichen dafür sorgen müssen, dass Beamte, die uns belogen oder Beweise geschreddert haben, entsprechend belangt werden. Auch von den zuständigen Ermittlern ist wahrlich nicht alles unternommen worden, um die widerlichen Verbrechen aufzuklären. Der Generalbundesanwalt ermittelt seit dem 11. November 2011. Sehr früh hatte er festgelegt: NSU? Das sind nur drei. Allenfalls gab es eine Handvoll Helfer. Doch unbesorgt, die sitzen ja jetzt in München auf der Anklagebank. Welch Irrtum! Auf der Erfolgsseite unserer Ausschussarbeit lässt sich festhalten: Wir waren unbequem, haben vieles öffentlich gemacht und sogar einige Nachermittlungen angestoßen. Ich hätte mir mehr gewünscht, muss allerdings auch sagen, dass unserem zweiten Untersuchungsausschuss der öffentliche Druck fehlte. So haben wir viel zu wenig über die Geheimdienstoperationen erfahren, die dem NSU und anderen rechtsterroristischen Strukturen in die Hände spielten und womöglich spielen.

 

Können Sie sicher sein, dass das rechtsextremistische Netzwerke, in die das NSU-Kerntrio eingebettet war, nicht mehr existiert?

 
Nein. Ganz im Gegenteil. Man muss sogar davon ausgehen, dass es längst weitere Zellen gibt, die ähnlich dem NSU operieren. Exemplarisch will ich auf Dortmund verweisen, wo sich im vergangenen Jahr in aller Öffentlichkeit die verbotene militante rechtsextremistische Blood&Honour-Bewegung Deutschland wiedergegründet hat. Das ist jene Truppe, die die Rechtsterroristen Mundlos, Böhnhardt und die jetzt in München angeklagte Beate Zschäpe versteckten und unterstützten. Bekannte Leute sind wieder an der Spitze.

 

Halten wir fest: Der oberste Ermittler, der Generalbundesanwalt, leitet die Recherchen. Die am besten ausgestattete Polizeibehörde Deutschlands, das BKA, ermittelt. Die Landespolizeibehörden arbeiten zu. Es gab zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundestages und mehrere in den Ländern. Und unterm Strich bleibt dennoch ein totales Versagen des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie?

 
So würde ich es nicht formulieren. Aber wir stoßen tatsächlich an die Grenzen der Möglichkeiten.

 

Die Grenzen sind menschengemacht. Haben sie eigentlich im Ausschuss eine Hitliste der Lügner geführt?

 
Bei welchem Zeugen sollten wir da anfangen, bei welchem enden? Und oft hatten sie ja nur »Erinnerungslücken«. Die ergänzt wurden durch fehlende Akten.

 

Täglich reden Regierungsvertreter über die Bedeutung der Terrorabwehr, ständig kommen Forderungen nach Gesetzesverschärfungen. Dabei geht es um islamistische Gefährder. Gibt es zweierlei Terrorgefahren?

 
Terror ist Terror. Mord ist Mord. Richtig ist, der Rechtsstaat hat das Versprechen gegeben, alle seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Und das gelingt nicht. Nicht jetzt und nicht bei den Attacken des NSU. Doch gerade um Vorkehrungen gegen solche Angriffe zu schaffen, wäre es wichtig zu wissen: Wie konnte es überhaupt zu dem Terror des NSU kommen? Warum unternahmen die Zuständigen nichts dagegen?

 

Der Prozess in München gegen mutmaßliche NSU-Mitglieder und -Helfer ist eine blamables Stück Rechtsgeschichte. Auch andernorts erfüllt die Justiz ihren Auftrag nicht. Der Prozess gegen das »Aktionsbüro Mittelrhein« endet, weil der Richter in Pension geht, andere Verfahren werden »entpolitisiert«, man stuft Straftaten ohne Not »runter«. Hat man in Amtsstuben nichts gelernt?

 
Bereits im ersten Untersuchungsausschuss haben wir fraktionsübergreifend und dringend einen Mentalitätswechseln bei den Behörden verlangt. Es mag an der ein oder anderen Stelle in der Ausbildung Veränderungen gegeben haben, doch unser wohlbegründetes Verlangen nach einem Mentalitätswechsel sucht man vergeblich. Das gilt für die Justiz, das gilt für die Polizeien, das gilt im gesamten öffentlichen Dienst. Ein alltägliches Beispiel für institutionellen Rassismus: Da wird eine Muslima rassistisch beleidigt, sie wehrt sich, will eine Anzeige machen. Und was entgegnet man ihr? Sie sei doch selbst Schuld, warum trägt sie auch ein Kopftuch. Solch Alltagsrassismus ist nicht singulär.

 

Ich erinnere mich an zahlreiche brennende Asylbewerberheime, doch kaum an Festnahme von Tatverdächtigen.

 
Ja, auch die heutige Generation von Rechtsterroristen macht die Erfahrung lascher Verfolgung oder gar der Straflosigkeit. Das Problem Rechtsterrorismus wird im Alltag, von politisch Verantwortlichen wie von institutionell zur Abwehr verpflichteten Fachleuten zumindest unterschätzt. Wenn über Terrorismus geredet wird, dann vor allem von dem gleichfalls furchtbaren islamistisch geprägten. Doch halbe Wahrheiten sind auch Lügen.

 

Es wäre sicher falsch zu behaupten, die Behörden hätten nichts aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses gelernt, oder?

 
Sie haben gelernt. Der Zuwachs an Vollmachten, den man sich auch mit Hinweis auf den NSU gegönnt hat, ist beträchtlich. Die Koalitionsmehrheit verschaffte den Geheimdiensten mehr gesetzliche Kompetenzen, mehr Geld, mehr Stellen, mehr Technik.

 

Die Leute, die bei der Abwehr von Terrorismus versagt haben, bekommen mehr Kompetenzen, also Macht?

 
So ist es. Das geht zulasten von Bürgerrechten. Das ist ein Kernthema unserer Kritik. Sie betrifft die Geheimdienste, insbesondere den Verfassungsschutz, bei dem das Problem an der Spitze beginnt.

 

Das heißt?

 
Ich meine das Demokratieverständnis oder besser das Demokratieunverständnis des Präsidenten. Doch ganz grundsätzlich. Geheimdienste sind ihrem Wesen nach unkontrollierbar und schon deshalb Fremdkörper jedweder Demokratie. Geheimdienste gehören aufgelöst. Der Verfassungsschutz muss abgelöst werden durch eine Institution, die sich wahrhaftig mit menschenrechts- und demokratiefeindlichen Erscheinungen auseinandersetzt. Transparent, in aller Öffentlichkeit. Was in den letzten Jahren unter der Überschrift Reformen des Verfassungsschutzes geschah, ist das Gegenteil davon. Es ist eine Legalisierung von rechtswidriger Praxis. Nehmen wir nur die Verpflichtung von hochkriminellen »Vertrauenspersonen«. Rund 40 V-Leute, waren im Umfeld des NSU-Trios eingesetzt. Und die haben alle nichts bemerkt? Man darf nicht vergessen: Diese Leute sind Nazis. Und zu allem Übel haben es ihre Auftraggeber, die Quellenschutz vor Strafverfolgung stellen, nun auch noch geschafft, dass V-Leuten Straftaten erlaubt werden. Per Gesetz, wenn sie denn nur einem »höheren Interesse« dienen. Um Schlimmeres zu verhüten, schlägt meine Fraktion zumindest einmal vor, den Staat in die Verantwortung zu nehmen. Ich denke da an die Übernahme von Amtshaftung zur Entschädigung von Opfern von Straftaten, die von V-Personen, Gewährpersonen, oder wie auch immer die in staatlichen Diensten stehenden Personen aus dieser Szene heißen mögen, begangen werden. Grundsätzlich jedoch müssen wir für die Abschaffung des V-Mann-Unwesens und der Dienste insgesamt eintreten.

 

Der Ausschuss hat viele Probleme, die über die direkte Untersuchung staatlichen Versagens im NSU-Fall hinausgehen, aufgeworfen. Er ist nun am Ende. Oder glauben Sie, es wird im kommenden Bundestag eine dritte NSU-Runde geben?

 
Wenn es nach unserer Fraktion geht, ja! Wir schlagen schon jetzt vor, in der nächsten Legislaturperiode einen weiterführenden Untersuchungsausschuss einzusetzen. Sein übergreifendes Thema: Rechtsterrorismus und Geheimdienste.

 

Sehen Sie dafür tatsächlich eine Mehrheit?

 
Ich kann nur eindringlich und mit vielen Argumenten dafür werben. Es geht um die Abwehr aktueller und künftiger Gefahren. Da müssen auch die Länder genauer hinschauen. Gerade Berlin. Oder Mecklenburg-Vorpommern, auch Hamburg. Überdies konnten wir bei den bisherigen Nachforschungen zum NSU-Komplex viele Bereiche gar nicht richtig beleuchten. Beispielsweise die Verbindungen der Rechtsterroristen zur »normalen« Organisierten Kriminalität. Die besteht doch fort. Die Verbindungen der Rechtsterroristen über nationale Grenzen hinaus wurden nicht aufgeklärt. Es gibt sie weiter. Auch mit Hilfe der noch in den Bundesländern arbeitenden Untersuchungsausschüsse müssen wir dafür sorgen, dass jetzt nicht alles unter den Teppich gekehrt wird. Den Rechtsstaat zu verteidigen, ist die Pflicht des Rechtsstaates. Und die der gewählten Volksvertreter.