Zeugen erinnern sich nicht, Angeklagte schweigen, die Polizei steht in der Kritik. Die rassistische Gewalt beim Sonnenwendfest 2016 hält Polenz bis heute in Atem.
Von Tobias Wolf und Alexander Schneider
Polenz ist ein grünes Paradies am Rande der Sächsischen Schweiz. Jetzt fürchten die Bewohner, als braunes Dorf gebrandmarkt zu werden.
© Tobias Wolf
Wind pfeift über den Schotterplatz am Rand von Polenz. Hier stand das Festzelt, in dem 25 Jahre lang das örtliche Schalmeienorchester zur Sommersonnenwende aufspielte. In der Ecke der Bierwagen, der Grill für Bratwürste und Schaschliks, dahinter der Holzhaufen für das Feuer. Daneben war die Blutlache, die niemand gesehen haben will und dann von der Freiwilligen Feuerwehr beseitigt wurde. An diesem Samstag wird der Platz leer bleiben. Das Fest der Schalmei, wie sie hier sagen, ist abgesagt, wird wohl nie wieder stattfinden. Weil es im letzten Jahr zu einer Gewaltorgie kam. Neonazis aus der Region sollen am 18. Juni 2016 gezielt Ausländer verjagt und auf zwei Bulgaren und einen Deutschen eingeprügelt haben, der offenbar nur wegen seines Spitznamens „der Rumäne“ zum Angriffsziel geworden war. „Scheiß-Asylanten“, „Islamistenschwein“, „Drecksau“ sollen sie gerufen haben, und: „Wenn Merkel dieses Volk reinholt, müssen wir es eben ’rausprügeln!“ Ein Bulgare erlitt mehrere Schädelbrüche, weil einer der Täter ihm mit einem Bierkrug mehrfach auf den Kopf geschlagen hatte.
Schon seit zwei Monaten versucht das Landgericht Dresden dieses rassistische Fanal aufzuklären, die Umstände der brutalen Angriffe. Drei Männer müssen sich wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. Sebastian K., der mit dem Bierkrug zugeschlagen haben soll, auch wegen versuchten Mordes. Die Schwurgerichtskammer hat große Mühe. Viele Zeugen des gut besuchten Dorffestes können sich angeblich nicht erinnern oder wollen nicht. Manche haben Angst. Oft heißt es: „Weiß‘ ich nicht mehr.“ Einige Besucher, auch Musiker und Feuerwehrleute haben teilweise sehr skurrile Zeugenaussagen gemacht.
Ein 30-jähriger Bundeswehrsoldat sagt: „Ich interessiere mich nicht für Menschen“, er könne sich ja nicht einmal daran erinnern, was er vorgestern gegessen habe. Der Jugendwart der Feuerwehr, damals als Brandwache vor Ort, sagt, er halte sich aus politischen Sachen heraus und fahre sehr gut damit. Ein anderer behauptet, niemand habe sich über das eilig abgesetzte Sonnenwendfest unterhalten: „Einen Dorftratsch gibt es bei uns nicht.“ Andere wollen sich nicht erinnern, dass eine Gruppe, zehn bis 15 Mann, immer wieder „Sieg Heil“ gerufen habe. Angesichts der ungewöhnlichen Aussagen sprach Richter Herbert Pröls von einer „seltsamen, medizinisch nicht erklärbaren Amnesie“. Er drohte sogar damit, selbst Kinder als Zeugen zu vernehmen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
In Polenz fürchten sie nun, als braunes Dorf gebrandmarkt zu werden. Es gehört zu Neustadt in Sachsen. Bei der letzten Landtagswahl hat in Neustadt jeder Fünfte rechte Parteien gewählt. Ein NPD-Mann sitzt im Stadtrat. In der Vergangenheit gab es Probleme mit Rechten. Die Vorfälle beim Polenzer Fest hat der Verfassungsschutz im Jahresbericht 2016 aufgeführt – als eine von 17 rechtsextremen Gewalttaten im Landkreis. Bis zu 300 Personen gehören dieser Szene an. Das ist über dem sächsischen Durchschnitt.
Wer nach Polenz reist, sieht ein Bilderbuch-Dorf für 1 300 Bewohner. Der gleichnamige Fluss plätschert durch das Tal, umgeben von grünen Hügeln. Häuser schmiegen sich an die Hänge, säumen Flusslauf und Straßen. Ein Paradies. Man kennt und grüßt sich. Ein altes Holzhaus mit Schindeldach fällt auf. Wer die Polenztalstraße entlang fährt, sieht die schwarz-rot-goldene Fahne davor, auf dem angeschraubten Emailleschild steht „Deutsche Reichsgrenze“. Eine Ausnahme, es gäbe hier keine Nazis, heißt es in Polenz immer wieder.
Mittwochabend. Vor dem Kegelklub stehen drei junge Männer. Sie trinken Bier und rauchen. Ein Mann geht vorbei, grüßt. „Ich komme aus Afghanistan, dort ist Krieg.“ Hat er Probleme in Polenz? „Nein, es ist schön hier.“ Er betont jede Silbe und lächelt. Die Männer gucken ihm nach. Das Sommerfest lässt auch sie nicht los. „Die Schläger haben schon vorher im Zelt dauernd ,Sieg Heil‘ gerufen.“ Auch drei Polenzer haben sie in der Gruppe gesehen. Ist das der Grund für die Angst? „Viele fragen sich, was ist, wenn die nicht verurteilt werden oder wieder rauskommen“, sagt einer. Klar komme es auf einem Dorffest mal zu Rangeleien, aber so etwas hätte es vorher nie gegeben. „Die kamen von außerhalb.“
Udo Bolz* ist Trommler im Orchester und der einzige Zeuge, der sich nach dem Fest selbst bei der Polizei gemeldet hat. „Die Erinnerungslücken von den Leuten vor Gericht finde ich beschämend“, sagt er. Auf die Frage des Richters, wie er sich das Schweigen mancher Polenzer erkläre, sagte Bolz: „Vielleicht sind viele von dem sogenannten Rechtsstaat enttäuscht worden.“ Der Zeuge sah, wie „der Rumäne“ in das Versorgungszelt flüchtete. „Er hatte panische Angst“, sagt Bolz. Plötzlich sei der 33-jährige Sebastian K. angeschossen gekommen und habe auf den 28-Jährigen eingeprügelt. Auch die Mitangeklagten Sebastian S. (24) und Maik R. (38) sind binnen Sekunden in der Ecke des Zeltes. K. habe auf den Mann eingetreten und geschlagen, S. auch. Als einer sagte: „Hört auf, der liegt schon am Boden“, habe S. den leblosen Körper hochgehoben, und K. habe weiter auf ihn eingeschlagen. Bolz sagt, er habe K. den Arm nach hinten verdreht. Die drei seien verschwunden, als die Umstehenden die Polizei alarmiert hatten.
Bolz macht sich Vorwürfe. „Ich hätte den ,Rumänen‘ im Kühlwagen verstecken können.“ Der 50-Jährige, kurze Haare, graues Hemd, Silberkette, sitzt im Garten und zündet sich eine Zigarette an. Er erzählt, dass die Schläger schon vor Festbeginn da waren, sich lauthals beschwerten, dass noch nichts los sei. Da kontrollierte Bolz den Holzhaufen für das Feuer. „Ich hab‘ gedacht, was sind das für Idioten, aber etwas an ihnen war komisch.“ Die Tätowierungen, das kurz geschnittene Haar, all das habe er registriert. „Ich hab zu unserem Orchesterchef gesagt, hier könnte es heute Abend knallen.“ Ab 19 Uhr hätten sie gespielt, eine Stunde, wie immer. „Ich finde es beschämend, dass keiner der Gäste nach dem Hitlergruß die Polizei gerufen hat.“ Er sagt, der Orchesterchef habe einer Polizistin noch vor der ersten Schlägerei davon berichtet. Es sei aber nichts passiert. Die Beamtin habe dem Mann nur eine Telefonnummer vom Revier Sebnitz gegeben. Heute macht Bolz die Polizei mitverantwortlich für die Gewalt an jenem Abend. „Die haben völlig getrieft.“
Damit ist er nicht allein. Auch Richter Pröls hat Zweifel daran geäußert, dass die Beamten vor Ort alles Notwendige veranlasst hatten. So wurde Sebastian K. noch nachts gestellt. Die Beamten nahmen nur die Personalien auf. Weil er einen Alkoholtest verweigerte, schickten sie ihn weg. K. erhielt sogar einen Platzverweis, weil er aggressiv war und nicht gehen wollte. Seine blutverschmierte Kleidung hatte die Polizei nicht interessiert. Pröls sagt, der Einsatzleiter vor Ort hätte sich besser mit seinen Kollegen abstimmen müssen. Die Polizisten schildern, sie hätten einer „Mauer des Schweigens“ gegenübergestanden, erhebliche Probleme gehabt, Zeugen zu finden.
Im Rathaus war man entsetzt. 24 Jahre lang sei alles gut gegangen. Nicht einmal kleine Vorkommnisse habe es in Polenz gegeben, sagt Stadtsprecherin Sarina Mann. Das Dorf ist kein Problem-Ort. Ein Autozulieferer und ein Verpackungshersteller beschäftigen zusammen über 200 Leute. Es gibt Reste der alten Infrastruktur: Bäckereicafé, Friseur, Blumenladen, das Waldbad, ein Feuerwehrhaus und den Probenraum der Schalmeiengruppe, das einzige Gasthaus „Erbgericht“. Der graue Putz stammt aus besseren Tagen. Da war das „Erbgericht“ noch der Treffpunkt. Hier gab das Orchester sein erstes Konzert. Nun wird es nur noch ein kleines Fest in Polenz geben. Mit der Absage des Sommerfestes ist keiner glücklich. „Das gehört hier dazu, erst Konzert, dann Disco und alle zusammen“, sagt ein Mann hinter seinem Gartenzaun. Die Schlägerei habe alles kaputt gemacht.
* Name von der Redaktion geändert