Sex in der DDR: Eine stille Revolution

Erstveröffentlicht: 
20.06.2017

In Westdeutschland gingen Studierende für freie Liebe auf die Straße – in der DDR wandelte sich Sex im Verborgenen. Im Interview spricht Sex-Forscher Professor Kurt Starke über das Intimleben der Kommilitonen in Ost und West und die Sehnsucht nach der großen Liebe.

 

Leipzig. Professor Kurt Starke wird als der „Sex-Papst des Ostens“ bezeichnet. Er forscht seit fast 50 Jahren zu Sexualität und Partnerschaft, hat an der Universität Leipzig studiert und gelehrt und war Forschungsdirektor des Zentralinstituts für Jugendforschung. Im Interview spricht der 79-Jährige über die sexuelle Revolution in der DDR und das Intimleben von Studierenden damals wie heute.

 

LVZ Campus : Bei sexueller Revolution denken die meisten an den Westen. Gab es sie auch in der DDR?


Kurt Starke : Ja, die gab es. In den Siebzigerjahren und zwar gleichauf mit der sexuellen Liberalisierung in den alten Bundesländern. Dort eher laut und lärmend, hier eher still, aber nicht weniger tiefgründig.

 

Warum still?


Viele Dinge wurden in der DDR gar nicht erst öffentlich gemacht. Es mangelte zum Beispiel an erotischer Literatur, Pornografie gab es sowieso nicht. Wenn im Westen jede Enttabuisierung öffentlich als Errungenschaft bezeichnet wurde, dann verliefen diese Prozesse im Osten sozusagen still, in der Familie. Diese gesamte heutige Outing-Kultur, dieses ständige Veröffentlichen von Intimem, das war der DDR völlig fremd.

 

Was waren die Gründe für die sexuelle Revolution in der DDR?


Das hing vor allem mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft, in der Familie und natürlich auch im Studium zusammen. Seit den Fünfzigerjahren waren in der DDR über 50 Prozent der Studenten Frauen. Diese Feminisierung hatte auch Auswirkungen auf die Familien. Wenn die Frau plötzlich höher gebildet ist als der Mann, dann ist das ein anderes Klima. Das andere war die Enttabuisierung von Sex. In den Zeiten, in denen ich zu forschen begann, sprach man noch vom vorehelichen Geschlechtsverkehr. Den sollte es eigentlich nicht geben, weil eine Frau „rein“ in die Ehe gehen sollte.

 

Das war auch in der atheistischen DDR so?


Zunächst ja. Aber die Studenten kümmerten sich nicht darum. Meine ersten Untersuchungen zeigten, dass der voreheliche Geschlechtsverkehr nicht nur toleriert, sondern gelebt wurde. Und die sexuell Aktivsten waren die künftigen Studentinnen. Am frühesten hatten die Ost-Frauen, insbesondere die Studentinnen, Sex, dann die Ost-Jungen, dann mit einigem Abstand die West-Frauen und ganz zum Schluss die West-Jungen.

 

Warum ausgerechnet die jungen Ost-Frauen?


Das hängt auch damit zusammen, dass junge Frauen in der DDR keine beruflichen Zukunftsängste hatten. Sie wussten genau, sie bekommen Arbeit. Diese Perspektive schafft ein ungeheures Selbstbewusstsein. Heute wissen viele Studenten nicht, was aus ihnen wird. Da möchte man keine Familie gründen.

 

Welche Unterschiede zwischen Ost- und West-Studierenden haben Sie noch festgestellt?


Man kann schon sagen, dass es in der DDR-Studentenschaft andere Verhaltensweisen gab. Wer zum Beispiel Lederfetischist war, der hatte es schwer in der DDR, weil Leder knapp war. Es gab kaum Subkultur, wo man das hätte ausleben können. Schwule durften zum Beispiel keine Annoncen aufgeben, sie standen im gesellschaftlichen Abseits. Das Thema Homosexualität ist erst mit Aids in die öffentliche Diskussion gekommen, allerdings Lesben gar nicht, die hat man nicht für voll genommen. Es ist absolut inhuman, dass diese Gesellschaft sich nicht früher den sexuellen Minderheiten gewidmet hat.

 

Sie forschen und publizieren bis heute. Was ist den Studierenden heute wichtig?


Wenn ich Studenten heute frage, ob es so etwas wie die große Liebe noch gibt, dann antworten 90 Prozent mit Ja. Seit Jahrzehnten, in Ost und West. Es ist ihnen einfach nicht auszutreiben. Aber das Verlieben ist schwieriger geworden. Obwohl kaum jemand so viele Kontaktmöglichkeiten hat wie Studenten, ist die Skepsis gewachsen. Ist es nun wirklich der Richtige? Denn der Richtige muss es natürlich sein. Der Anspruch ist hoch. Und dann wird kühl gerechnet: Wann kann ich mir wie viel Zeit für eine Partnerschaft lassen? Und wenn das zu problematisch wird, dann lässt man es lieber ganz.

 

Das klingt ernüchternd.


Nein, Studenten haben sehr wohl die Sehnsucht, Beruf und Liebe zu vereinbaren. Doch es wird vielen diese Möglichkeit nicht gegeben – Kinder zu bekommen zum Beispiel. Zu DDR-Zeiten war der Campus voller Kinderwagen, 40 Prozent der Studentinnen hatten Kinder. Heute sieht man das kaum. Sehr viel Glück kommt so nicht zustande. Aber das den Studenten anzulasten und zu sagen, sie sind heute oberflächlich, sie denken nur an die Karriere, das stimmt mit meinen Befunden nicht im Geringsten überein.

 

Interview: Jana Lapper