Vom Unglück zum Mordvorwurf und zurück

Erstveröffentlicht: 
13.06.2017

Am 13. Juni 1997 starb im Sebnitzer Dr.-Petzold-Bad der sechsjährige Joseph. Sein Tod entwickelte sich zu einem der größten Medienskandale der Bundesrepublik. 20 Jahre nach dem tragischen Badetod blickt die SZ noch einmal auf den Fall Joseph.

Von Dirk Schulze

 

Sebnitz. Am Anfang stand vor allem die Stadt Sebnitz in der Kritik. Als die Sächsische Zeitung vor 20 Jahren über den Tod des sechsjährigen Joseph berichtete, äußerte noch niemand Zweifel an einem Badeunfall. Die Frage war: Trägt jemand dafür die Verantwortung? Der Schwimmmeister des Bades befand sich am Unglückstag, dem 13. Juni 1997, im Urlaub – zwei Rettungsschwimmer leisteten aber ihren Dienst. Die Eltern des Kindes, Renate und Saad Kantelberg-Abdulla, verklagten später die Stadt als Betreiberin des Bades. Der Zivilprozess endete mit einem Vergleich. Die Staatsanwaltschaft erhob nie Anklage gegen Sebnitz.

 

Ein Blick ins SZ-Archiv zeigt, dass die Eltern schon früh nicht an einen Unfall glaubten. Ihr Anwalt erstattet bereits im Oktober 1997 Anzeige gegen drei Jugendliche wegen eines Tötungsdelikts. Sie hätten Joseph getaucht. Bemerkenswert: Die Anschuldigungen richteten sich damals noch gegen drei andere Jugendliche, nicht gegen die, die später verhaftet wurden – und kurz darauf wieder frei kamen, weil sich die Vorwürfe als haltlos erwiesen.

 

Im November 2000 wird Sebnitz auf einen Schlag bundesweit als Stadt bekannt, in der Neonazis am helllichten Tag ein Kind ertränkt haben sollen. Wenige Tage später ist von dieser Story nichts mehr übrig. Der Tod des kleinen Joseph war keine Tat von Rechtsradikalen – er war noch nicht einmal eine Tat.

 

Doch könnte es sein, dass der Fall noch einen anderen, gegenteiligen Effekt gehabt hat? Dass sich die Sebnitzer, als alle von außen auf die Stadt eindroschen, untereinander solidarisierten und daraufhin tatsächlich existierende rechtsextreme Einstellungen nicht ernsthaft thematisiert wurden? Immerhin erhielt die NPD bei den Stadtratswahlen 2014 gut 15 Prozent, bei der Landtagswahl im selben Jahr machten im hiesigen Wahlkreis 17 Prozent ihr Kreuz ganz rechts.

 

„Das kann ich nicht unterstreichen“, sagt Oberbürgermeister Mike Ruckh (CDU). Eine Solidarisierung, ja, die habe es gegeben, weil damals die ganze Stadt am Pranger gestanden hat. Da habe man sich untergehakt. „Das hat aber nicht dazu geführt, dass man gemeinsam rechte Tendenzen übersehen hat, überhaupt nicht“, erklärt Ruckh. „Wir haben auch damals zu keinem Zeitpunkt gesagt, dass es in Sebnitz oder der Sächsischen Schweiz keine Probleme damit geben würde.“

 

Diese bekannten Probleme führen dazu, dass die Region bis heute schnell in den medialen Fokus gerät. Als Anfang Oktober drei aus Syrien stammende Flüchtlingskinder laut Polizei in Sebnitz von Jugendlichen mit einem Messer bedroht wurden, lief das in den Tagesthemen der ARD. Ruckh ist der Ansicht: So etwas passiere auch in westdeutschen Städten, nur dann lande es eben nicht in den Fernsehnachrichten. „Das ist der Unterschied“, sagt der OB.

 

Vor knapp einem Jahr war Sebnitz wieder in den Schlagzeilen, als Bundespräsident Joachim Gauck während seines Besuchs beim Deutschen Wandertag mit Trillerpfeifen ausgepfiffen und massiv beschimpft wurde.

 

Mit dem, was im Herbst 2000 passierte, habe dies nicht viel gemein gehabt, relativiert der Oberbürgermeister. Der Fall Joseph habe eine ganz andere Dimension gehabt. „Dagegen war Gauck Tagesgeschäft“, sagt Ruckh. Auf die Bild-Zeitung, die diese Lawine am 23. November 2000 mit der Schlagzeile „Neonazis ertränken Kind“, losgetreten trat, hegt der Sebnitzer Stadtchef keinen Groll. „Die Bild hat wenigstens recherchiert“, sagt Ruckh. Sie sei eben zu einem anderen Ergebnis gekommen als zum Beispiel der Spiegel, dem das Material auch vorlag, der es aber nicht veröffentlichte. Wie die Schlagzeilen der Bild ausfallen, sei ebenfalls bekannt. Verwerflich hätten sich jedoch vor allem die Medien verhalten, die einfach nur abgeschrieben haben.

 

Heute ist die Sache für den Sebnitzer OB abgeschlossen. „Die Stadt hat sich davon vollkommen erholt“, sagt Ruckh.

 

Lesen Sie hier , was Kommunikationswissenschaftler Lutz Hagen über den Fall Joseph und die Folgen für den Journalismus sagt. (exklusiv für Abonnenten)

SZ-Redakteur Jörg Stock hat die ganze Geschichte zum Fall Joseph zusammengetragen. Eine gekürzte Fassung aus dem Buch „Der Kannibale von Heidenau“. (exklusiv für Abonnenten)