Anhänger des Fünftligisten Chemie Leipzig wurden von den Behörden überwacht - darunter auch ein Sozialarbeiter. Die Ermittlungen wurden mittlerweile eingestellt, Empörung, Wut und Misstrauen bleiben. Von Edgar Lopez
Im November 2016 erhält der Sozialarbeiter Sebastian Kirschner Post von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden. Der Inhalt des Schreibens ist brisant: Drei Jahre lang wurde gegen ihn wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Mittlerweile sei das Verfahren gegen ihn aber eingestellt. Zwei Tage später kommt ein weiteres Schreiben: Als Beschuldigter sei er über mehrere Monate überwacht worden. Anrufe seien abgehört, SMS mitgelesen worden.
Kirschner arbeitet für das Leipziger Fanprojekt und ist für die Betreuung der Fanszene des gerade in die Regionalliga aufgestiegenen Vereins Chemie Leipzig verantwortlich. Die Ermittlungen haben ihn überrascht: "Ich war natürlich einigermaßen geschockt und perplex", sagt er SPIEGEL ONLINE. Was zunächst Ungläubigkeit, Empörung und Wut ausgelöst habe, entwickelt sich mit Bekanntwerden des gesamten Ausmaßes zu einem Skandal - auch wenn das Verfahren mittlerweile komplett eingestellt wurde.
Zwischen Oktober 2013 und November 2016 suchten die sächsischen Behörden in Leipzig nach Beweisen für eine kriminelle Vereinigung innerhalb der linken Szene. Deren Mitglieder sollen in mehreren Fällen Rechtsextreme angegriffen haben. Der Fokus von Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt richtete sich auf vierzehn Hauptbeschuldigte. Da etliche von ihnen Fans von Chemie Leipzig sind, fiel die Aufmerksamkeit schnell auf die als linksalternativ geltende Fanszene des Vereins.
Auch Ärzte und Rechtsanwälte unter den Abgehörten
Neun der vierzehn Beschuldigten wurden telefonisch überwacht - und indirekt auch Anschlüsse weiterer Personen: Darunter Familienmitglieder, Freunde, Kollegen, Geschäftspartner und Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten.
Aus einer Kleinen Anfrage des Grünen-Landtagsabgeordneten Valentin Lippmann geht hervor, dass mindestens 240 Personen als Gesprächspartner betroffen waren. 68.925 Verkehrsdatensätze seien gespeichert worden. In Kirschners Fall, so geht es laut dem Sozialberater aus der Akteneinsicht hervor, seien sein Arbeitsschwerpunkt, die sozialpädagogische Betreuung von jugendlichen Fußballfans, Ermittlungsursache- und Gegenstand gewesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden bestätigt die Überwachung Kirschners nicht, da man generell keine personenbezogenen Daten zu Ermittlungen bekannt gibt. Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein merkt auf Nachfrage von SPIEGEL ONLINE jedoch an, dass in der Regel ein Anfangsverdacht vorliegen müsse, der sich in weiteren Ermittlungen bestätigt oder eben nicht. Wenn dabei herauskomme, dass die Vorwürfe haltlos sind, sei das auch ein Ergebnis.
Außergewöhnlicher Vorgang
Steffen Kröner, Regionalleiter der Outlaw Kinder- und Jugendhilfe, Träger des Leipziger Fanprojekts, hatte Einblicke in die Ermittlungsakten: Dort hieße es, der Kollege sei Teil einer kriminellen Struktur, weil er Transportmittel für Fahrten zu Auswärtsspielen besorge sowie an Treffen von Fans teilnehme und Räume bereitstelle. Des Weiteren werde dort eine Bildungsfahrt in den sächsischen Landtag aufgeführt. Diese Tätigkeiten gehören jedoch zu den Grundaufgaben sozialpädagogischer Fanprojektarbeit.
Dass der Vorgang in Leipzig außergewöhnlich ist, bestätigt Michael Gabriel, Leiter der bundesweiten Koordinationsstelle Fanprojekte. Während die Feststellung von Personalien sowie erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen Mitarbeiter immer mal wieder vorkommen, sind Ermittlungsverfahren äußerst selten.
Gabriel weist darauf hin, dass die Aufgaben der Fanprojekte als professionelle Einrichtungen der Jugendhilfe im Nationalen Konzept Sport und Sicherheit definiert sind. Dieser Auftrag müsse auch von der Polizei respektiert werden: "Wenn wie in diesem Fall Ermittlungen aufgenommen werden, nur weil der Betroffene seinen Arbeitsauftrag ausführt, gerät die gesamte Arbeit der Fanprojekte in Gefahr."
Ermittlungen gegen Fanprojektmitarbeiter greifen nicht nur formal ihre Arbeitsgrundlage an. Sie riskieren auch ihre Position als Personen, an die sich Fans vertrauensvoll wenden können. Eine Stellung, die in der Vergangenheit schon oft Konfliktsituation zwischen Fans und Behörden aufgelöst hat.
SPIEGEL ONLINE ist noch ein weiterer, aktueller Fall bekannt. Gegen eine Mitarbeiterin des Fanprojekts Karlsruhe wird wegen Sachbeschädigung ermittelt. Auf der Fahrt zu einem Auswärtsspiel des Karlsruher SC beim FC St. Pauli Ende Februar wurden die Anlagen einer Raststätte mit einem Markerstift bemalt. Die niedersächsische Polizei nahm daraufhin die Personalien aller mitfahrenden Personen auf und leitete gegen alle - inklusive der Fansozialarbeiterin - Ermittlungsverfahren ein.
Sozialarbeiter Kirschner sieht Fanprojekte in Konfliktsituationen als "Übersetzer" zwischen Fans und den Institutionen, vor allem Ermittlungsbehörden. Eine wichtige Rolle, die sonst niemand ausfüllen könne. Kriminalisierung und Überwachung von Fanprojektmitarbeitern erzeuge hingegen Misstrauen. Den vorherigen Status quo, die Mitarbeiter ohne Ermittlungen arbeiten zu lassen, sieht er weiter in Gefahr: "Bisher fanden seitens der ermittelnden Behörden - sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Polizei - keinerlei Versuche dazu statt, ihn wieder herzustellen."