Ein junger Afghane soll abgeschoben werden, Hunderte Jugendliche protestieren, Polizisten werden verletzt. Was ist am Mittwoch in Nürnberg wirklich passiert? Und wer ist der 21-Jährige? Eine Rekonstruktion.
Als sich Asef N. am Mittwochmorgen auf seinen Platz im Klassenraum setzte, ahnte er nicht, dass gerade Polizisten nach ihm suchten. Ein Projekttag zu Vielfalt und Toleranz stand auf dem Stundenplan, losgehen sollte es mit einem Vortrag zum Thema Migration und der Ausbeutung von Wanderarbeitern. In welchem Raum Asef N. denn sei, wollten die Beamten von der Schule wissen.
Dass Schulleiter in Bayern gesetzlich verpflichtet sind, in solchen Fällen zu kooperieren, hatte das Amt für Berufliche Schulen in Nürnberg erst vor wenigen Wochen klargestellt: Sie würden nun vermehrt von der Polizei dazu aufgefordert, bei Abschiebungen mitzuhelfen - und müssten das auch, heißt es in einem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt.
Und so forderte die Schulleitung um kurz nach 8 Uhr den 21 Jahre alten Afghanen auf, die Polizisten zum Streifenwagen zu begleiten: Da gegen ihn ein Abschiebungsbeschluss bestehe, werde er nun in Abschiebegewahrsam genommen.
Eigentlich hatten Asef N. und seine elf Mitschüler gerade in den Seminarraum hinübergehen wollen. Dort warteten schon die Referenten des Projekttags auf sie. Stattdessen ging Asef N. mit den Beamten nach draußen - und seine Mitschüler folgten. Vor der Berufsschule parkten zwei Streifenwagen. In einen wurde der junge Afghane gesetzt. Doch bevor das Auto losfahren konnte, hatten sich schon davor und dahinter Schüler postiert.
Die Polizisten entschlossen sich, Asef N. in den zweiten Streifenwagen zu bringen, doch auch dieser wurde von den Schülern an der Abfahrt gehindert. Immer mehr Jugendliche strömten herbei, Passanten blieben stehen. Auch ein Dutzend Lehrer kam heraus. Irgendwann standen 300 Menschen vor der Schule, darunter laut Polizei 50 aus dem "linksautonomen Spektrum". Die Autonomen hätten versucht, den Afghanen gewaltsam zu befreien, sagen die Beamten.
Sie forderten Verstärkung an, acht Streifenwagen fuhren vor - und das Unterstützungskommando USK samt Polizeihund. Die Beamten versuchten, Asef N. in ein drittes Auto zu bringen. Das sei der Zeitpunkt gewesen, an dem die Situation eskalierte, sagt Augenzeuge Jörg Weißgerber. Er hätte in der Klasse von Asef N. den Vortrag über Migration halten sollen.
"Die Gewalt ging eindeutig von der Polizei aus", sagt Weißgerber. "Ich habe schon viele Demos gesehen, aber dass Polizisten mit solch unverhältnismäßiger Härte gegen friedliche Schüler vorgehen, habe ich noch nicht erlebt. Das hat mich schockiert."
Die Beamten setzten Schlagstöcke und Pfefferspray ein, der Hund wurde mit Maulkorb auf die sitzenden Schüler losgelassen. Nach Angaben der Polizei wurden neun Beamte verletzt, von den Demonstranten seien keine Verletzten gemeldet worden. "Wie soll man denn bei jemandem, der einen gerade angegriffen hat, eine Verletzung melden?", fragt Weißgerber. Er selbst habe Schüler mit Platz- und Schürfwunden und von Pfefferspray geröteten Augen gesehen.
Mit Gewalt gelang es den Polizisten schließlich, den jungen Afghanen abzutransportieren. Noch am selben Abend sollte er nach Kabul fliegen. Doch dazu kam es nicht.
Wegen des schweren Anschlags in der Nähe der deutschen Botschaft in Kabul am Mittwochmorgen sagte die Bundesregierung kurzfristig den Abschiebeflug nach Afghanistan, der unter anderem Asef N. in seine Heimat hatte bringen sollen, ab. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) nannte dafür organisatorische Gründe. Er will den Sammelflug möglichst bald nachholen. Das Auswärtige Amt soll bis Juli die Lage in Afghanistan neu bewerten.
Bis dahin bleibe es bei "der Förderung der freiwilligen Rückkehr" und bei der Abschiebung von Straftätern und Gefährdern "auf Basis einer Einzelfallprüfung", sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag in Berlin. Vorrangig gehe es darum, Flüchtlinge abzuschieben, die kriminelle Taten in Deutschland begangen hätten.
Und zu diesen gehört Asef N. offenbar nicht. Gegen ihn werden derzeit "strafrechtliche Verstöße geprüft", heißt es von der Polizei - aber offenbar nur, weil er am Mittwoch nicht freiwillig in den Streifenwagen eingestiegen ist und im Verdacht steht, "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" geleistet zu haben.
Asef N. soll mit Anschlag gedroht haben
Asef N. lebt seit vier Jahren in Deutschland, er kam allein aus Afghanistan hierher. Laut Polizei reiste er illegal ein, ohne Pass. Von der Bezirksregierung heißt es, man habe ihn achtmal erfolglos aufgefordert, sich für die Rückführung in sein Heimatland einen afghanischen Pass zu beschaffen. Sein Verhalten beschreibt sie deshalb als "unkooperativ". Laut Polizei drohte Asef N. am Mittwoch auf der Polizeidienststelle im Fall seiner Abschiebung mit einem Anschlag. Er habe gesagt: "In einem Monat bin ich eh wieder hier und bringe Deutsche um."
Das passt wenig zu dem Bild, das andere von dem jungen Mann zeichnen: Aus seinem Umfeld heißt es, er spreche gut Deutsch, sei bestens integriert, fleißig, ehrgeizig, freundlich. Im Herbst sollte er eine Ausbildung als Schreiner beginnen, schon jetzt, im Berufsgrundschuljahr, lernte er das Handwerk in der Lehrwerkstatt. Nach Paragraf 25a des Aufenthaltsgesetzes kann "gut integrierten Jugendlichen", die seit vier Jahren "erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung" in Deutschland leben und "erfolgreich eine Schule besuchen", eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden - wenn der Antrag vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird.
Asef N. ist vor Kurzem 21 geworden. Den Antrag hat er gestellt, noch vor seinem Geburtstag. Weil er dafür einen afghanischen Pass vorlegte, wirft ihm der mittelfränkische Regierungspräsident Thomas Bauer (CSU) vor, die bayerischen Ausländerbehörden "jahrelang systematisch getäuscht" zu haben. Er habe schließlich doch einen Pass besessen, ausgestellt im Jahr 2007.
Sein Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung wurde mit Bescheid vom 23. Mai abgelehnt, "mangels Vorliegen der Voraussetzungen". 2015 hatte er von der Ausländerbehörde eine Erlaubnis für den Abschluss eines Ausbildungsvertrags bekommen. Er hatte damals eine Ausbildung als Fliesenleger begonnen, den Job aber noch in der Probezeit verloren. Der Chef sei unzufrieden mit ihm gewesen, heißt es.
Sechsmal trafen Beamte Asef N. in seiner Wohnung nicht an
Von der bevorstehenden Abschiebung sei er schriftlich informiert worden, heißt es von der Polizei. Beamte hätten sechsmal erfolglos versucht, ihn in seiner Wohnung anzutreffen. Es habe keine andere Möglichkeit als die Festnahme in der Schule gegeben. Generell würden Asylbewerber über eine geplante Abschiebung lange vorher informiert, allerdings nicht über den Termin. "Abschiebungen müssen rechtlich nicht angekündigt werden. Manche werden vorgewarnt, manche nicht", sagt Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat.
Auf ihre Initiative hin hat Asef N. seit Mittwochabend einen Anwalt. Dieser erlangte vor Gericht einen ersten Sieg: Das Amtsgericht lehnte die von der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von Mittelfranken beantragte Abschiebehaft ab. Für eine solche Maßnahme gebe es keinen Anlass.
Asef N. wurde vor dem Gericht von 25 Mitschülern und seinem Klassenlehrer empfangen.