Redseliger Rädelsführer im Prozess um »Gruppe Freital«

Erstveröffentlicht: 
19.04.2017

Hauptangeklagter benennt Aktivitäten der »Skinheads Sächsische Schweiz« / Staatsanwältin sagt in Dresdner Terrorprozess aus

 

Dresden. Der mutmaßliche Rädelsführer der unter Terrorverdacht stehenden Neonazi-»Gruppe Freital« hat den Ermittlungsbehörden bereitwillig Auskunft zu einzelnen Anschlägen gegeben. Das ist das Fazit der Vernehmung einer Staatsanwältin, die damals mit dem Fall beauftragt war. Der 28 Jahre alte Timo S. habe über viele Dinge gesprochen, die »wir gar nicht auf dem Schirm hatten«, sagte sie am Dienstag bei der Verhandlung im Oberlandesgericht in Dresden: »Wir waren perplex, zu wie vielen Sachen er etwas sagen konnte.«

 

Timo S. habe auch ausgesagt, dass bei dem Überfall auf das alternative Dresdner Wohnprojekt »Mangelwirtschaft« in der Nacht vom 18. zum 19. Oktober 2015 neben Mitgliedern der Freien Kameradschaft Dresden Leute von den Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) beteiligt waren, gab die Staatsanwältin zu Protokoll. Das habe S. aber nur vom Hörensagen her gewusst. Auch bei den Krawallen vor einer Flüchtlingsunterkunft im August 2015 in Heidenau sollen »SSS«-Leute eine Rolle gespielt haben. Die Neonazi-Kameradschaft war 2001 in Sachsen verboten worden.

 

In dem Prozess wird sieben Männern und einer Frau im Alter zwischen 19 und 39 Jahren unter anderem die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Sie sollen insgesamt fünf Sprengstoffanschläge auf Flüchtlinge und politische Gegner in Freital und dem nahen Dresden verübt und für ein Klima der Angst und Repression gesorgt haben. Nach Darstellung der Bundesanwaltschaft nahmen sie die Verletzung und Tötung von Menschen in Kauf. In der Anklage geht es auch um versuchten Mord. Die verwendeten Böller waren für die Anschläge präpariert worden und besaßen enorme Sprengkraft.

 

Laut Zeugenaussage hatte Timo S. bei seiner Vernehmung den mitangeklagten Patrick F. als Ideengeber zumindest der letzten beiden Anschläge genannt. F. soll maßgeblich für die Sprengsätze zuständig gewesen sein. Offenbar versuchte Timo S. im Gegenzug für Aussagen vor Polizei und Staatsanwalt wieder aus der Haft zu kommen. Diese Vermutung äußerte zumindest Anwalt Endrik Wilhelm, der die einzige Frau in der Runde der Beschuldigten vertritt. Eine solche Zusage sei Timo S. aber seitens der Ermittler nicht unterbreitet worden, erklärte die Staatsanwältin.

 

Die Dresdner Staatsanwaltschaft hatte zunächst keine Verbindungen zwischen den einzelnen, der rechtsextremen »Gruppe Freital« zugeschriebenen Anschlägen gesehen. »Es war wie ein Puzzle, wo man von 1000 Teilen nur fünf hat«, berichtete die Staatsanwältin. Nach und nach seien dann aber weitere Teile hinzugekommen. Da es damals verschiedene Tatorte gab, habe man auch verschiedene Verfahren eingeleitet und bearbeitet. Im Frühjahr 2016 übernahm die Bundesanwaltschaft den Fall.

 

Verteidiger Wilhelm machte am Dienstag auch eine vermeintliche Ermittlungspanne öffentlich. Er wollte von der Staatsanwältin wissen, ob ihr bekannt sei, dass der Anschlag auf das linke Wohnprojekt hätte verhindert werden können - wenn nämlich die Bänder von einer angeordneten Telefonüberwachung eher abgehört worden wären. In dem Gespräch soll über den Anschlag gesprochen worden sein. Die Auswertung sei erst am darauffolgenden Morgen erfolgt. Die Staatsanwältin hatte nach eigenem Bekunden keine Kenntnis davon.

 

Anfang April hatte es die erste Zeugenaussage eines Opfers im Freital-Prozess gegeben. Der Freitaler LINKE-Stadtrat Michael Richter hatte unter Tränen geschildert, wie er wegen seines Engagements für Flüchtlinge bei Facebook bedroht worden sei - »bis hin zu Morddrohungen«. »Stellt ihn an die Wand, erschießt ihn, steinigt ihn«, habe es da geheißen. Das Auto des 41-Jährigen war Ende Juli 2015 nachts vor seiner Haustür gesprengt worden. Auch ein Sprengstoffexperte des Landeskriminalamtes hatte ausgesagt und seine Ermittlungen nach dem Anschlag auf eine Freitaler Flüchtlingsunterkunft im September 2015 beschrieben, bei dem an einem Küchenfenster ein sogenannter »Cobra 12«-Böller angebracht und gezündet wurde: »Das ist schon eine erhebliche Sprengkraft, die direkt vorm Körper - auch ohne die Splitterwirkung - tödliche Folgen haben kann«, sagte der 44 Jahre alte LKA-Beamte. Durch die Explosion waren die Scheibe und der Rahmen des Fensters völlig zerstört worden. Splitter seien noch in der vier Meter entfernten Rückwand der Küche eingeschlagen. Verletzt worden sei nur deshalb niemand, weil sich zum Zeitpunkt des Anschlags keiner der acht Bewohner der Flüchtlingswohnung in der Küche aufgehalten habe, so die Anklage.

 

Zuvor war in der Verhandlung bekannt geworden, dass die Beschuldigten in der Untersuchungshaft Briefe ausgetauscht haben. Aus den bei Zellendurchsuchungen gefundenen Schreiben gehe hervor, dass die Taten der Beschuldigten durch ein rechtsextremistisches Weltbild bestimmt und von Timo S. und Philipp W. bis heute positiv gesehen würden, sagte eine Nebenkläger-Anwältin. Bereits zuvor hatte sich ein früheres Mitglied der rechtsextremen Terrorgruppe angegeben, dass er sich von Timo S. bedroht fühle. Er glaube, dass dieser »über Leichen geht«, sagte der 23 Jährige bei seiner Zeugenvernehmung. Er beschrieb S. als äußert aggressive Führungsfigur. »Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so viel Hass in sich hat.« Agenturen/nd