Neue Behördenpanne im NSU-Komplex - Es fehlen 114 Kurznachrichten

Erstveröffentlicht: 
08.03.2017

Aufregung im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages: In Unterlagen des Thüringer Landeskriminalamtes Thüringen fehlen mehrere Seiten Protokolle aus einer Telefonüberwachung. Wo sie abgeblieben sind, ist unklar.

von Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia

 

Es ist der August 1998 in Chemnitz. Seit sieben Monaten sind Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe auf der Flucht. Ihnen auf der Spur ist der Thüringer LKA-Zielfahnder Sven Wunderlich. Dass die Drei in Chemnitz sein sollen, hatte Wunderlich immer wieder gehört. Doch bisher ist seine Suche vergeblich gewesen. Wunderlich ist aber ein Zielfahnder, der nicht so schnell aufgibt. Er weiß, bei einer solchen Flucht muss nicht nur das familiäre Umfeld, sondern auch Freunde oder Kameraden aus der rechten Szene als mutmaßliche Helfer gesehen werden. Wunderlich forscht in Chemnitz nach und ist schnell auf der Spur des Neonazis Jan Werner. Eine Szenegröße, mit guten Kontakten zum Neonazi-Netzwerk "Blood & Honour". 

 

Tausende SMS mitgelesen


Diese Kontakte sind es, die LKA-Fahnder Wunderlich interessieren. Denn wer im Untergrund lebt, braucht Hilfe - das ist seine These. Mit dieser konnte Wunderlich die Staatsanwaltschaft Gera überzeugen, ihm beim Amtsgericht die Genehmigung zu besorgen, das Handy von Werner anzuzapfen. Zwischen August und November 1998 fing das Thüringer Landeskriminalamt Tausende von SMS ab. Offenbar waren die Kurznachrichten das beliebteste Kommunikationsmittel von Jan Werner.

 

In der Fachsprache der Polizei werden die abgefangenen Nachrichten als sogenannte S-Records bezeichnet. Gespeicherte SMS, die in ausgedruckter Form Hunderte von Seiten füllen. Jede der SMS hat eine Kennnummer, und diese Nummern ziehen sich fortlaufend durch die Akten. Werner kommunizierte mit all seinen Kameraden per SMS, und das Thüringer LKA las mit. Doch in keiner Textmitteilung werden Mundlos, Böhnhardt oder Zschäpe erwähnt. Dafür ein "Bums". 

 

"Was ist mit dem Bums?"


Am 25. August 1998 schreibt Werner einem Kameraden mit dem Namen Carsten Szczepanksi einen SMS. "Hallo, was ist mit dem Bums?". Dieser Satz ist in den Ermittlungen des NSU-Komplexes von zentraler Bedeutung. Denn bei Carsten Szczepanski handelt es sich um den ehemaligen V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes "Piatto". Nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 und den Auswertungen der alten Akten ging das Bundeskriminalamt davon aus, dass so codiert über Waffen und Sprengstoff für das Trio kommuniziert wurde.

 

Deshalb sind Werners SMS brisant. Doch nun, über fünf Jahre nach dem Auffliegen, droht eine erneute Behördenpleite. Denn im Untersuchungsausschuss des Bundestages wurde festgestellt, dass 114 SMS, die Werner mutmaßlich empfangen oder versendet hatte, in den Akten fehlen. Konkret geht es um Nachrichten zwischen 26. August 1998 15:31 Uhr und dem 27. August 1998 06:58. Es gibt zwischen den SMS-Protokollnummern 1748 und 1862 eine Lücke.

 

Die räumt das Thüringer Innenministerium in einem Schreiben an den Bundestagsuntersuchungsausschuss ein. In dem vertraulichen Papier, das MDR THÜRINGEN vorliegt, heißt es: "Die vom Untersuchungsausschuss festgestellte Lücke in den TKÜ-Unterlagen [...] besteht tatsächlich." Ein technisches Versagen der Aufzeichnungsgeräte kann ausgeschlossen werden. Denn vom Handy eines anderen, damals überwachten Neonazis ging um 15:32 eine SMS bei Werner ein. Diese Überwachung lief also. Wie die Daten aus den Akten verschwunden sind, kann das Ministerium nicht erklären. Es sind aber nicht die einzigen SMS, die fehlen. MDR THÜRINGEN hat bei einer Analyse der Akten weitere Lücken gefunden. So fehlen am 29. August 1998 22 Textnachrichten in den Protokollen.

 

Der Untersuchungsausschuss des Bundestages versucht nun zu klären, wie die Daten aus den Akten verschwinden konnten. Die wichtigste Frage dabei: Ist das vor oder nach der Enttarnung des NSU-Trios am 4. November 2011 passiert? Sollten damit eventuell Spuren verwischt werden und wenn ja, warum? Oder, fehlen die SMS aufgrund von schlampig geführten Akten?

 

Für die Linken-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin, Petra Pau, deutet alles auf eine Manipulation hin. Pau sagte MDR THÜRINGEN: "Die Akten der Zielfahndung zu einem zentralen Unterstützer des NSU-Kerntrios sind ganz offensichtlich manipuliert worden." Für sie müsse die Frage, wer dafür verantwortlich sei, dringend geklärt werden. Der Ausschuss will nun prüfen, ob LKA-Beamte aus Thüringen als Zeugen vorgeladen werden sollen. Besonders drei Beamten kämen da in Frage. Sie sollen nach dem Auffliegen des Trios die alten Akten durchgesehen haben - darunter auch die brisanten Abhörprotokolle. Alle drei Polizisten waren damals in die Suche nach dem Trio eingebunden gewesen.