Am 16. Februar verschickt die Schulleitung des Johannes-Rau-Ganztagsgymnasiums in Wuppertal eine E-Mail an das gesamte Kollegium.
"In den vergangenen Wochen wurde zunehmend beobachtet, dass muslimische Schülerinnen und Schüler im Schulgebäude für andere deutlich sichtbar beten, signalisiert durch rituelle Waschungen in den Toiletten, das Ausrollen von Gebetsteppichen, das Einnehmen von entsprechenden Körperhaltungen. Dies ist nicht gestattet."
Das Schreiben schließt mit der Aufforderung an die Lehrer, betende Schüler freundlich auf das Verbot hinzuweisen, ihre Namen zu notieren und der Schulleitung zu melden.
Die interne Mitteilung sorgt mittlerweile bundesweit für Aufsehen: Kritiker werfen der Schule Diskriminierung von Muslimen vor. Am vergangenen Freitag ging bei der Staatsanwaltschaft in Wuppertal deshalb eine Anzeige gegen das Gymnasium ein. Der Vorwurf: Das Gebetsverbot verletze die Religionsfreiheit.
Die Schulleitung schweigt zu dem Fall. Von der zuständigen Bezirksregierung in Düsseldorf hieß es zunächst, mehrere Lehrer und Kinder hätten sich durch das Verhalten der betenden Mitschüler bedrängt gefühlt. "Das Verbot des Betens auf provozierende Art in der Schulöffentlichkeit soll das friedliche Miteinander fördern und den Schulfrieden sichern", schrieb eine Sprecherin. Danach distanzierte sich die Bezirksregierung von der Formulierung: Die Wortwahl sei "unglücklich", für Außenstehende könne rasch ein falscher Eindruck entstehen. "Denn das Beten ist jedenfalls dann unbedenklich möglich, wenn es den Schulbetrieb nicht beeinträchtigt."
Sieht so ein guter Umgang mit dem Islam und seinen Bräuchen aus? Oder gefährden Muslime und ihre Gebete das friedliche Miteinander wirklich derart in einer Schule?
Ein Mitglied des Kollegiums, das anonym bleiben möchte, sagt: "Dieser Streit ist völlig sinnlos vom Zaun gebrochen worden." Schon immer hätten muslimische Schüler in der Schule gebetet, im Keller oder in leeren Klassenräumen. "Probleme hat es dabei kaum gegeben, niemand hat provozierend gebetet oder versucht, andere zu missionieren."
Aber wieso wurde dann das Gebetsverbot verhängt? "Das sind ähnlich irrationale Ängste vor Überfremdung, wie sie auch in der Bevölkerung zu sehen sind", sagt der Lehrer und macht eine vielsagende Pause. "Sagen wir mal so: Ich will nicht ausschließen, dass manche Kollegen Ressentiments gegenüber Andersgläubigen haben."
Im Internet wurde das Verbot für verschiedene Zwecke instrumentalisiert
Von den rund 350.000 Einwohnern Wuppertals ist etwa jeder zehnte Muslim. Von den Schülern des Johannes-Rau-Gymnasiums ist es jeder dritte, sie können dort islamischen Religionsunterricht besuchen. In Wuppertal gibt es 16 islamische Gemeinden und, ab nächstem Jahr, den ersten muslimischen Friedhof Deutschlands. Zahlreiche religionsübergreifende Initiativen setzen sich für ein respektvolles Zusammenleben ein.
Gleichzeitig ist Wuppertal die Stadt, die 2014 Schlagzeilen machte, als sieben Männer mit Warnwesten (Aufdruck: "Shariah Police") durch die Innenstadt patrouillierten und auf Einhaltung der islamischen Sitten pochten. Mehrfach verteilten Salafisten Mohammed-Biografien in der Fußgängerzone, ihre Vereinigung wurde mittlerweile verboten. Auch die bekannten radikalen Islam-Prediger Sven Lau und Pierre Vogel waren regelmäßig in Wuppertal aktiv.
Die Probleme mit radikalen muslimischen Jugendlichen hätten in den vergangenen Jahren zugenommen, sagt ein Leiter eines Wuppertaler Jugendvereins, der anonym bleiben möchte – zu groß sei die Gefahr, ansonsten zwischen die Fronten zu geraten. "Die negative Tendenz ist an einzelnen Jugendlichen feststellbar", sagt er. "Das beginnt mit Mädchen, die plötzlich nur noch Kopftuch tragen, und endet bei Jungen, die wildeste Verschwörungstheorien zu den USA und dem Nahen Osten propagieren."
Aktionen wie das Gebetsverbot am Ganztagsgymnasium würden die Radikalisierung junger Muslime nur befeuern. "Dadurch wird ein Opfer- und Märtyrertum geschürt, nach dem Motto: Die wollen euch euren Glauben austreiben." Statt eines Verbots müsse man mit den Jugendlichen reden, um sie über ihren Glauben aufzuklären, und ihnen die Grenzen ihrer Religionsfreiheit klarmachen.
Jürgen Lemmer leitet bei der Stadt Wuppertal das Ressort Zuwanderung und Integration, das auch Antiradikalisierungsprogramme für muslimische Jugendliche anbietet. Er schätzt, dass pro Jahr eine kleine zweistellige Zahl an Teilnehmern dieser Programme stark gefährdet sei, in die radikale Szene abzurutschen. Am Johannes-Rau-Gymnasium seien ihm solche Fälle aber bislang nicht bekannt. "Die Schule leistet bei der Integration sehr gute Arbeit", sagt er.
Die Bezirksregierung äußert sich nicht dazu, wie viele Fälle betender Schüler tatsächlich zum Gebetsverbot geführt haben oder welche konkreten Vorfälle es gab. Unklar ist ebenso, wie die interne Mitteilung an die Öffentlichkeit gelangte, da die Rektoren sie nur an das Kollegium verschickt hatten.
Nach Veröffentlichung der Mail wurde sie im Internet sofort für verschiedene Zwecke instrumentalisiert. Als Erstes griff sie der Aktivist Martin Lejeune auf, der in der Vergangenheit immer wieder mit extremen proislamischen und protürkischen Positionen auffiel. Lejeune schrieb in einer Stellungnahme an ZEIT ONLINE wörtlich: "Mit solchen Aktionen und Reaktionen wie jetzt am Ganztagsgymnasium Johannes Rau kristallisiert sich die selbe Einstellung heraus, wie sie die Deutschen bei Hitler hatten." Auf der anderen Seite begrüßten rechtsextreme Vereinigungen wie Pro NRW das "Verbot des provozierenden islamischen Kampfbetens".
Was wird der Aufruf zum Gebetsverbot also bringen außer viel hysterischem Getöse? Wahrscheinlich nicht viel. "Die muslimischen Schüler werden weiterhin beten, auch in der Schule", sagt der Lehrer des Johannes-Rau-Gymnasiums, "das gehört eben zu ihrer Religion dazu."