Sie zündeten Sprengsätze an einem Flüchtlingsheim, griffen Politiker und Polizisten an - In Freital machten Rechtsextreme monatelang, was sie wollten. Nun soll ein Prozess klären, wie es so weit kommen konnte.
Romeo ist nicht mehr da. Im vergangenen Herbst ist er von Freital bei Dresden nach Rheine gezogen. Das liegt tief im Nordwesten nahe der holländischen Grenze. 550 Kilometer trennen die beiden Orte. Und Welten, wenn man Romeos Mutter glauben darf. Ganze Welten.
Romeos Mutter ist nicht wirklich seine Mutter, aber der 19-Jährige nennt Ines Kummer so. „Mutti“, sagt er, seit sie den jungen Ghanaer vor bald drei Jahren aufnahm und sich um ihn kümmerte. Einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling mit schwarzer Haut: „Meine Mutti.“ Ines Kummer ist 54, verheiratet und hat drei Kinder. Sie erzählt, wie Romeo in Rheine ankam, wie er seine Lehre in einer Logistikfirma begann, wie die Kollegen ihn dort aufnahmen, wie er das erste Mal bei ihr in Freital anrief und staunend berichtete: „Du, Mutti, die grüßen mich hier. Die sind freundlich.“
Man muss wissen, wie Romeo in Freital verabschiedet wurde, wenn man verstehen will, warum Ines Kummer das so ausführlich erzählt: Es gab nämlich einen Grillabend mit Familie und Freunden im Garten. Irgendwie hatte die lokale Neonaziszene das mitbekommen und dann die Straße beschmiert. „Alle raus“, stand da mit Kreide, überall „NS“.
Ein schlimmer Abend. „Er musste hier weg“, erzählt sie. „Er war hier dauernd Angriffen ausgesetzt.“ Silvester 2015/16 sei er mit Böllern beschossen worden, ständig bremsten Autos ab, wenn er auf dem Bürgersteig ging, Fenster runter, Geste: Kopf ab. In der S-Bahn habe ihn eine Schaffnerin hämisch angemacht, er sei ja wohl „Schwarzfahrer, hähä. Deine Karte will ich sehen.“ Die Deutsche Bahn habe sich später dafür entschuldigt, die Schaffnerin eine Abmahnung kassiert. „Wir haben nur noch in Angst gelebt“, erzählt Ines Kummer, wenn sie an die Zeit mit Romeo denkt. Angst um den Jungen. Romeo habe irgendwann alle Hoffnung verloren. Trotz der Freunde im Fußballverein Blau-Weiß Stahl Freital. „Die waren toll, die standen zu ihm. Aber er sollte nicht enden wie Jorge Gomondai“, sagt sie. Gomondai war ein 28-jähriger Mosambikaner, der 1991 in Dresden starb, von Neonazis vermutlich aus der Straßenbahn geworfen. Das erste Opfer von Rassismus in Dresden nach der Wende. Ein kleines Denkmal erinnert an ihn.
Man muss so etwas wissen, wenn man verstehen will, was einige Leute in Freital aushalten mussten in den vergangenen Jahren. Und womöglich heute auch noch. Und welches Klima in der 40 000 Einwohner zählenden Stadt bei Dresden herrschte, nachdem einige Dutzend Rechtsextremisten ungehindert machten, was sie wollten.
Vor dem Oberlandesgericht Dresden beginnt nun ein außergewöhlicher Prozess. Nicht nur wegen der besonders scharfen Sicherheistvorkehrungen. Nicht nur wegen des Gerichtsortes: Verhandelt wird in einer Kantine, eigentlich vorgesehen für ein Flüchtlingsheim, das es noch nicht gibt. All das direkt neben Dresdens großem Gefängnis am nördlichen Stadtrand. Es ist ein Terroristenprozess, mindestens 62 Tage lang bis Ende September, der am Dienstag beginnt. Angeklagt ist die „Gruppe Freital“, wie die Bundesanwaltschaft die acht Beschuldigten nennt, sieben Männer, eine Frau, 19 bis 39 Jahre alt. Die Anklage wirft ihnen die Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung vor. Es geht um versuchten Mord, um gefährliche Körperverletzung, um Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und Sachbeschädigung.
Es geht um das Jahr 2015 in Freital und Umgebung. Rädelsführer sollen Timo S. (Spitzname: „Nacken“) und Patrick F. („Festi“) sein, der eine in Hamburg, der andere in Dresden geboren. „Nacken“ war Busfahrer, Linie 360. Irgendwann gab es auch eine Bürgerwehr, die genau so hieß: Freital / 360. Vorher schon Frigida und „Freital wehrt sich“. Da ging es richtig los in Freital.
Obst bedeutet Sprengstoff
Es entstand: Feierabendterrorismus. Das deutsche Flüchtlingsjahr 2015, wütendes Geschrei in Heidenau, Dresden und Freital, wo Flüchtlinge im leer stehenden Hotel Leonardo untergebracht werden. Die einen helfen den Ankommenden, die anderen pöbeln, die große Mehrheit guckt zu oder weg. Pegida im nahen Dresden hetzt Leute auf, kocht die Wut hoch und höher. Aus Wut und Sprüchen werden fliegende Steine und Sprengsätze. Nicht nur in Freital. Es ging ganz einfach, es ging auch ganz schnell, ein ehemaliger Mitstreiter hat es beschrieben: Es gab eine Demonstration gegen Flüchtlinge.
Als die vorbei war, trafen sich einige in Freital in der „Kellerbar“. Man redete, man gründete eine eigene Gruppe, man schwor sich zu schweigen, man machte Pläne, keine Namen, kein Aufsehen. Man nutzte ein koreanisches verschlüsseltes Messengersystem namens Kakaotalk, man sprach von Obst, wenn es um Sprengstoff ging. Am Tag fahren sie Bus, liefern Pizza aus, einer ist Lagerist, einer Gleisbauer, einer Mechaniker, die Frau arbeitslos. Zwei kommen aus Freital, zwei aus Dresden, die anderen aus Hamburg, Berlin, Prenzlau und Erkelenz im Rheinland. Sie wohnen in und um Dresden, sind nie aufgefallen, nur einer hatte schon mal Ärger mit dem Gesetz. Die Ermittler sprechen von einer neuen Qualität: Menschen, die von jetzt auf gleich zur Gewalt bereit sind und Verbrechen begehen.
Sie gehen ihrer Abeit nach oder fahren mal rüber nach Tschechien, illegale Böller kaufen, um daraus gefährliche Sprengsätze zu basteln. Cobra 11, Viper 12, Böller mit 50 Gramm Sprengstoff und mehr. Kein Problem. Abends, so die Bundesanwaltschaft, treffen sie sich an der Tankstelle im Stadteil Deuben, planen Anschläge und spähen Ziele aus: Linke Politiker, deren Büros, Flüchtlinge, ein alternatives Wohnprojekt in Dresden. Sie sprengen laut Anklage am 27. Juli 2015 den Golf von Michael Richter in die Luft, er ist linker Stadrat in Freital. Am 23. Juni greifen sie einen Wagen an, in dem junge Leute unterwegs sind und zertrümmern die Scheiben mit Baseballschlägern. Der Fall sorgt auch deshalb für Aufsehen, weil Martin Duligs Sohn drin sitzt, der Sohn des stellvertretenden sächsischen SPD-Ministerpräsidenten.
Das Gute im Schlechten: Bei den Angriffen und Anschlägen kommt niemand um, nur zwei Leute erleiden Verletzungen, was ein Wunder ist. Am 1. November 2015 allerdings gibt es einen Anschlag in der Wilsdruffer Straße auf eine Wohnung von Flüchtlingen, der auch tödlich hätte enden können: Die Täter kleben Sprengsätze an die Fensterscheiben und zünden sie. Ein Flüchtling sieht sie rechtzeitig, alle im Raum bringen sich in Sicherheit. Dennoch, so die Bundesanwaltschaft: Mordversuch. Die Angreifer hätten den Tod ihrer Opfer billigend in Kauf genommen.
Ines Kummer ist auch Stadträtin in Freital. Eine Grüne. Es gibt zwei Fragen, die sie nicht loslassen: Wie konnte das alles passieren? Wie konnte Freital das zulassen? „Eine kleine Minderheit hat es fertig gebracht, dass bei uns Gewalt Realität geworden ist.“ Die selbsternannte Bürgerwehr Ftl / 360 lief mit schwarzen T-Shirts herum: „So gut wie keine Gegenwehr.“ Am 19. April 2016, erzählt Ines Kummer, dem Tag, als ein Sondereinsatzkommando der GSG9 Mitglieder der „Gruppe Freital“ verhaftet, hätten sich Linke, SPD und Grüne von der CDU anhören müssen, sie trügen maßgeblich Schuld am lädierten Ruf Freitals. Die Mehrheit aus CDU, AfD und Freiwählern sei nicht bereit, mal darüber nachzudenken, was in Freital passiert sei. „Und wir haben es deshalb aufgegeben, das im Stadtrat zu thematisieren.“ Man hätte früher eingreifen müssen, meint sie.
Die nichtstuende Mitte
Ines Kummer erzählt, wie sie dem angeblichen Rädelsführer „Nacken“ einmal über den Weg lief. Es war beim Herbstfest des Freitaler Bündnisses für Weltoffenheit und Toleranz. Plötzlich kam hupend ein Auto mit Fahne „Widerstand Freital“ und umkurvte das kleine Fest „Es war bedrohlich.“ In einer Verkehrskontrolle später fand die Polizei verbotene Böller im Auto.
„Es gibt hier eine Minderheit, die kümmert sich, eine Minderheit, die ist Neonazi. Und dazwischen die Mitte. Die tut nichts.“ Das sei das Problem. Die nichtstuende Mitte. Sie erzählt, wie Neonazis vergangenes Jahr durch die Stadt gezogen seien und überal „NS“ hingemalt hätten. Dann seien Freitaler und Flüchtlinge losgezogen, um die Schmierereien wegzumachen. „Was passierte?“ Sie kann es immer noch nicht fassen: „Die ersten Putzaktionen mussten abgebrochen werden, weil die Leute schlimm beschimpft wurden.“
So etwas wundert Kerstin Köditz kein bisschen. Köditz ist sächsische Landtagsabgeordnete, 49, Linke, aus dem Muldentalkreis, in ihrer Fraktion zuständig für den rechten Rand. Sie und ihre Mitarbeiter sammeln seit Jahren akribisch alles, was sich in Sachsen ereignet an Überfällen, Angriffen, zerdepperten Wahlkreisbüros, Hassmails. Sie kennen einigermaßen die rechten lokalen Szenen, die Kameradschaften, sie wissen wie die Gruppen zusammenhängen. „Manchmal habe ich das Gefühl, es ist zu spät“, sagt die kleine Frau in ihrem Dresdner Büro und klingt erschöpft. „Hier in Sachsen sind Dinge ins Rutschen geraten und ich weiß nicht, wie man das alles noch einmal zurückdrehen kann.“
Die „Gruppe Freital“, sagt sie: schon der Name sei falsch. „Mir ist unklar, wieso die nur die acht Angeklagten ausgewählt haben.“ Nur acht Angeklagte, es gebe mindestens noch einmal so viele, die vor Gericht gehörten. Außerdem seien die Täter mobil, es gehe doch nicht nur um die Kleinstadt bei Dresden. „Das ist nicht nur Freital, die Gruppen sind eng vernetzt, da mischen die Hooligans aus dem Umfeld von Dynamo Dresden mit. Es ist ein Problem der ganze Region Dresden.“