Im Mai 2015 wurde das Berliner Holocaust-Mahnmal von einer Gruppe junger Männer geschändet. Zwei von ihnen standen nun vor Gericht: Der eine muss wegen Störung der Totenruhe eine Geldstrafe zahlen, der andere wurde freigesprochen. Von Ulf Morling
Ein Dienstagmorgen im Mai 2015, gegen 5 Uhr. Fünf junge Männer kommen aus einer Diskothek in Berlin-Mitte und schwanken über die Straße zum Holocaust-Mahnmal. Jeder erklimmt eine Stele und sie beginnen Fußballlieder zu grölen. Sie hüpfen herum und feuern sich an, indem sie in die Hände klatschen. Jamal W. (25) knöpft seine Hose auf. Er uriniert von einer Stele auf die nebenstehende. Ein Kumpel lässt die Hose herunter und zeigt sein Gesäß. "Scheiß-Juden", wird gerufen.
Als die beiden Wachpolizisten der amerikanischen Botschaft die Beschimpfungen hören, alarmieren sie die Kollegen von der Polizeiwache in Mitte. Mit zwei Funkwagen rücken Beamte an und treffen die fünf jungen Männer noch vor Ort. Von den Angetrunkenen werden unwillig Auskünfte gegeben. "Was wollen Sie denn von uns? Wir haben doch gar nichts angestellt", werden die Beamten aus der Gruppe mit Worten angegriffen. Als die Personalien festgestellt werden, sind die Polizisten überrascht: Ein Polizeikollege ist bei den mutmaßlichen Schändern des Mahnmals mit dabei gewesen. Zwei Monate vor dem Vorfall ist er gerade in den Berliner Polizeidienst übernommen worden. Bis heute wurde kein Verfahren gegen ihn eingeleitet.
Vorwurf: Volksverhetzung und Störung der Totenruhe
Nur zwei der fünf am Denkmal für die ermordeten Juden Europas von der Polizei angetroffenen jungen Männer stehen jetzt vor Gericht - knapp zwei Jahre nach dem Vorfall: der Mann, der sein Hinterteil entblößt haben soll, und der Mann, der an eine Stele uriniert haben soll. Beiden wird vorgeworfen, die antisemitische Beleidigung gegrölt zu haben. Neben Volksverhetzung wird beiden Störung der Totenruhe vorgeworfen.
"Die Vorwürfe treffen mich persönlich und stellen mich in eine Reihe mit Nazis und Ausländerhassern, die Flüchtlingsheime in Brand stecken", lässt Samet Y. (25) zu Beginn des Prozesses seinen Verteidiger erklären. Als türkischstämmiger Alewit habe er selbst genug Erfahrung mit Diskriminierung. Alewiten würden auch von vielen Türken und Arabern abgelehnt, weil sie nicht "richtige Moslems" seien.
Am Tatabend hätten die fünf fußballbegeisterten jungen Männer kräftig getrunken, heißt es vom Verteidiger weiter. Einer von ihnen habe damals gerade einen Profivertrag für einen Erfurter Zweitligisten unterschrieben. Nach dem Besuch eines Clubs gegenüber vom Holocaust-Mahnmal sei man dorthin gegangen: "Ich habe nicht realisiert, dass das ein falscher Ort zum Feiern ist", lässt der Angeklagte seinen Verteidiger für sich sprechen. Sie hätten Fußballlieder gesungen, auf den Stelen getanzt und gelacht. Das sei nicht in Ordnung gewesen. Aber seinen Hintern habe er nicht entblößt.
"Ich bin definitiv kein Antisemit"
Jamal W. (22) lässt ebenfalls seinen Verteidiger sprechen: Flaschenweise Wodka und Whiskey hätten sie getrunken in der Nacht. "Ich stand dann mit freiem Oberkörper auf einer Stele und habe an die daneben uriniert. Ich schäme mich dafür", lässt er erklären. "Scheiß-Juden" habe auch er nicht gerufen. "Ich bin definitiv kein Antisemit", betont W. Sein Vater sei Libanese, seine Mutter Italienerin. Er legt Richterin Annett Wittkopf ein Zeugnis seines Fußballtrainers vor. Danach ist W. seit langer Zeit aktiver Spieler einer Mannschaft, die sich die Völkerverständigung von Arabern und Juden zur Aufgabe macht. Die jeweiligen religiösen Feste feiere man gemeinsam.
Einer der Polizisten in den alarmierten Funkstreifenwagen sagt als Zeuge im Prozess aus. Seit 1999 tut er Dienst in der Wache, die für das Holocaust-Mahnmal zuständig ist. Über Funk sei in der Nacht der Einsatzbefehl gekommen: "Irgendetwas mit Judenbezug soll gerufen, und es soll uriniert worden sein." Doch die Beamten hätten nur betrunkene und ausgelassene Fußballfans auf dem Stelenfeld vorgefunden. Urinieren in der Öffentlichkeit sei eigentlich nur eine Ordnungswidrigkeit. Man habe die Personalien aufgenommen und die fünf Männer gehen lassen. "Ich habe die Situation falsch eingeschätzt."
"Da bin ich ein bisschen platt", sagt die Amtsrichterin zu dem Streifenpolizisten: Seit 1999 sei er in seinem Abschnitt im Dienst und betrachte Urinieren im Denkmal für die ermordeten Juden Europas als Ordnungswidrigkeit, statt als Störung der Totenruhe? "Wir haben den Sachverhalt nicht in Bezug zu diesem Denkmal gesehen", erwidert der 47-jährige Beamte wörtlich. Noch auf der Fahrt zur Wache hatte der Staatsschutz vom LKA ihn angerufen: Warum die jungen Männer nicht festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt worden seien? Schließlich sei das das übliche Vorgehen.
Ein Freispruch, eine Geldstrafe
Sie glaube, dass Antisemitismus bei den Angeklagten keine Rolle gespielt habe in der Tatnacht, so die Richterin im Urteil. In nüchternen Zustand hätten beide es nie getan, davon ist sie überzeugt. Dass Samet Y. sich auf den Stelen des Mahnmals entblößte, ist für die Richterin nicht erwiesen. Er wird daher freigesprochen.
Dagegen scheint nach der Sichtung des Überwachungsvideos und der Zeugenaussage eines der fünf jungen Männer klar: Der damals gerade seit zwei Monaten als Polizeibeamter seinen Dienst verrichtende Beteiligte aus der Gruppe der fünf jungen Männer muss es wohl gewesen sein. Er ist als einziger auf dem Überwachungsvideo ganz in Schwarz gekleidet.
Jamal W. wird vom Amtsgericht wegen "Störung der Totenruhe" durch das Urinieren zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro verurteilt.
"Ich bin überzeugt davon, dass aus der Gruppe heraus 'Scheiß-Juden' gerufen wurde", betont die Amtsrichterin im Urteilsspruch. Allerdings gebe es zu viele Zweifel, um die Angeklagten deshalb wegen Volksverhetzung verurteilen zu können.
Der Berliner Polizeibeamte, der in der Gruppe der fünf jungen Männer dabei war, wird nun voraussichtlich ein Ermittlungsverfahren zu erwarten haben, so der Staatsanwalt im Prozess: "Störung der Totenruhe" lautet der Vorwurf, weil er am Denkmal für die bis zu sechs Millionen jüdischer Opfer des Holocaust mutmaßlich seine Hosen herunterließ und sein Hinterteil zeigte.