Neonazi-Anführer Michael Kühnen hatte möglicherweise Kontakt zum Verfassungsschutz

Erstveröffentlicht: 
24.11.2016
Michael Kühnen, in den 80er- Jahren der radikalste Neonazi-Anführer in Westdeutschland, hatte möglicherweise Kontakte zum Verfassungsschutz. Diesen Verdacht legt ein jetzt aufgetauchter Stasi-Bericht nahe. Demnach soll Kühnen, der 1991 verstarb, nach seiner Haftentlassung 1982 mit einem Fahrzeug des niedersächsischen Verfassungsschutzes (LfV) vom Gefängnis abgeholt worden sein. Das LfV hat nach eigenen Angaben weder Erkenntnisse dazu noch Unterlagen aus dieser Zeit.

 

Bereits Ende der 70er-Jahre hatte die Stasi damit begonnen, ein Dossier über Kühnen anzulegen. Einem später verfassten Auskunftsbericht zufolge schätzte sie ihn als „intellektuellen Drahtzieher des neonazistischen Untergrundes der BRD“ ein, der über „umfangreiche Verbindungen zu führenden Mitgliedern von rechtsextremistischen Terrororganisationen“ in Deutschland und Westeuropa verfüge. Auch von bundesdeutschen Sicherheitsbehörden wurde Kühnen als gefährlich eingestuft; das Bundeskriminalamt führte ihn als terrorverdächtigen „Gefährder“ und schrieb ihn am 30. November 1982 zur polizeilichen Beobachtung aus.

 

An jenem Tag wurde Kühnen nach mehr als vier Jahren Gefängnis aus der Haftanstalt in Celle in Niedersachsen entlassen. Er hatte dort eine Strafe wegen Volksverhetzung und nationalsozialistischer Propaganda abgesessen. In bisherigen Veröffentlichungen über die Haftentlassung hieß es stets, dass Kühnen von Celle aus mit einem Taxi direkt zu seinen Gesinnungsfreunden in Hamburg gefahren sei.

 

Von Celle bis nach Hamburg

Ein im Kühnen-Dossier des Ministeriums für Staatssicherheit überlieferter „Sachstandsbericht“ der für funkelektronische Aufklärung zuständigen Hauptabteilung (HA) III lässt diese Taxifahrt in neuem Licht erscheinen. Das Papier vom 10. Januar 1983 hatte der damalige Leiter der HA III, Horst Männchen, dem stellvertretenden Stasi-Minister Gerhard Neiber persönlich zugesandt.

 

Gegenstand des Berichts war die „festgestellte Zusammenarbeit zwischen dem westdeutschen Verfassungsschutz und dem Rechtsextremisten Kühnen, Michael“, wie es in dem Begleitschreiben Männchens an Neiber heißt. Demnach sei Kühnen am 30. November 1982, als er das Gefängnis in Celle verließ, in ein dort „auf ihn wartendes Kraftfahrzeug (gestiegen)..., amtliches Kennzeichen BS-EK (Nummer von der Stasi-Unterlagenbehörde geschwärzt – d.Red.), das als Taxi kenntlich gemacht worden war“.

 

Bei diesem Auto „handelt es sich nachweislich um ein Dienstfahrzeug des LfV Niedersachsen“, heißt es weiter. Kühnen sei mit dem Wagen von Celle bis nach Hamburg gefahren, „wo er im Bereich des Hamburger Hauptbahnhofs das Fahrzeug wieder verließ“. Das Fazit des MfS-Berichts: „Möglicherweise war die mehrjährige Inhaftierung des K. (vom Verfassungsschutz – d.Red.) dazu genutzt worden, ihn als Informanten oder für eine Zusammenarbeit in anderer Form zu gewinnen.“

 

Nie wieder ein Bezug zum Verfassungsschutz

Die Stasi-HA III beruft sich in ihrem Bericht über Kühnens Taxifahrt auf eine „zuverlässige inoffizielle Quelle“. Damit umschrieb die Lauschabteilung gemeinhin Erkenntnisse, die sie aus abgehörten Funkverkehr und Telefongesprächen gewonnen hatte. Die MfS-Führung erhielt den Bericht erst gut anderthalb Monate nach der Entlassung Kühnens, das könnte darauf deuten, dass in der Zwischenzeit die Stichhaltigkeit der Information weiter geprüft wurde. Gut möglich, dass die HA III dabei auch Hilfe von der für Auslandsspionage zuständigen HVA erhielt, die zu jener Zeit gleich zwei Agenten im LfV Niedersachsen führte.

 

Das Landesamt in Niedersachsen konnte auf Anfrage nichts Erhellendes beitragen. Man habe alle in Frage kommenden Abteilungen ergebnislos zu dem drei Jahrzehnte zurückliegenden Vorgang befragt, sagte Behördensprecher Frank Rasche. Hinzu komme, dass Verfassungsschutzakten aus jener Zeit bereits vernichtet worden seien.

 

Erstaunlich ist, dass in den vorhandenen Stasi-Akten über Kühnen nie wieder ein Bezug zum Verfassungsschutz auftaucht, obwohl die Information doch die oberste Leitungsebene des DDR-Geheimdienstes erreicht hatte. Allerdings ist unklar, ob das in der Stasi-Unterlagenbehörde liegende Kühnen-Dossier überhaupt vollständig ist: Im Sommer 1990 wurden mit Zustimmung der letzten DDR-Regierung Aktenbestände des MfS zum westdeutschen Links- und Rechtsterrorismus an bundesdeutsche Sicherheitsbehörden übergeben. Erst später kamen diese Akten ins Stasi-Archiv zurück.