Neue Details im Fall des V-Manns „Piatto“ im Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe: Wusste Brandenburgs Verfassungsschutz doch mehr als bislang behauptet? Interne Vermerke legen den Verdacht nah, dass die Polizei behindert wurde, um Carsten Szczepanski zu decken.
Potsdam/München - Brandenburgs Verfassungsschutz gerät im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht erneut ins Zwielicht. Einmal mehr geht es um die Frage: Hätte die Verfassungsschutzabteilung des Innenministeriums in Potsdam die Serie von regelrechten Hinrichtungen an neun aus der Türkei und Griechenland stammenden Unternehmern in den Jahren 2000 bis 2006, den Mord an einer Polizisten in Heilbronn 2007, das Nagelbombenattentat in Köln 2004 sowie mehrere Raubüberfälle verhindern können?
Carsten Szczepanski, V-Mann des Verfassungsschutzes, Deckname "Piatto"
Im Zentrum steht Carsten Szczepanski, in den 1990er-Jahren eine zentrale Figur der Neonazi-Szene über Brandenburg hinaus, ein wegen Mordversuchs an einem Nigerianer verurteilter Schwerkrimineller. Noch in der Haft diente er sich dem Verfassungsschutz als V-Mann an und wurde eine der wichtigsten Quellen, Deckname „Piatto“. Mit ihr gelang dem Geheimdienst nach eigener Darstellung ein Quantensprung beim Ausspähen der Neonazi-Szene. Szczepanski wurde auch von der Justiz später auffällig freundlich behandelt, bekam früh Freigang, kam vorzeitig frei dank eines Praktikums im Erzgebirge, direkt im Unterstützerkreis des aus Jena stammenden und zuvor untergetauchten Neonazi-Trios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
Schon im Sommer 1998 bekam Brandenburgs Verfassungsschutz von "Piatto" Hinweise auf das NSU-Trio, auf untergetauchte Skinheads, „zwei Männer und eine Frau“, die dabei seien, Waffen zu besorgen. Es war einer der wenigen Hinweise, die es überhaupt auf das Trio gab, bevor es ab 2000 die Serie von Morden startete. Der Hinweis wurde nur allgemein an die Behörden in Thüringen weitergeleitet, es wurde alles getan, um die Quelle zu schützen. Den Fahndern in Thüringen half das daher nicht viel weiter.
Szczepanski geriet bei Suche nach NSU ins Visier der Fahnder
Auf der Suche nach dem Trio geriet auch Szczepanski ins Visier der Fahnder des Landeskriminalamtes in Thüringen. Die hörten das Telefon des Neonazis Jan Werner ab. Der Führer der sächsischen Sektion „Blood & Honour“ half dem Trio beim Untertauchen in Chemnitz und war auf der Suche nach Waffen für den NSU. Und er hatte Kontakt zu Szczepanski.
„Piatto“ war vom Verfassungsschutz mit einen Handy ausgestattet worden, registriert auf das Innenministerium in Potsdam. Als vom Bundesamt für Verfassungsschutz der Hinweis kam, dass Szczepanskis Handy von den Thüringer Fahndern erfasst wurde, wurde es kurzerhand ausgetauscht. Das ist bislang unstrittig. Fraglich ist, ob der Verfassungsschutz von einer entscheidenden SMS, verschickt von Jan Werner an Szczepanski, erfuhr.
„Hallo, was ist mit dem Bums.“
Am 25. August 1998 um 19.12 Uhr schrieb Werner an „Piatto“: „Hallo, was ist mit dem Bums.“ Alle Experten sind sich einig, dass damit Schusswaffen gemeint waren. Die Herkunft der Waffen des NSU-Trios ist bislang ein großes Rätsel.
Brandenburgs Verfassungsschutz will bislang von der SMS erst 2012 nach Bekanntwerden des NSU 2011 durch ein Gutachten aus Thüringen erfahren haben. Gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission des Landtags Brandenburg erklärte das Innenministerium stets: „Handy wurde am selben Tag – wohl vor dem Absenden der SMS – aus Gründen des Quellenschutzes vom Quellenführer eingezogen und deaktiviert.“
Opferanwälte: Brandenburg sabotierte Fahndung nach dem NSU-Trio
Die Hamburger Kanzlei BDK, die als Nebenkläger für NSU-Opfer auftritt, legte dem OLG in München nun einen Beweisantrag und einen bislang nicht bekannten, geheimen Bericht des Brandenburger Verfassungsschutzes vor. Demnach, so der zuerst in der "Welt" zitierte Vorwurf, hätte Brandenburg die Fahndung nach dem NSU-Trio sogar sabotiert, um „Piatto“ als Quelle zu schützen.
Mit V-Mann Carsten Szczepanski gab es eine Spur zum NSU. Sabotierte Brandenburgs Verfassungsschutz die Fahndung? https://t.co/eTgCAliSIa pic.twitter.com/9aotHppHfq
— Alexander Fröhlich (@alx_froehlich) 17. November 2016
Reinhard G., der damaligen V-Mann-Führer von „Piatto“, hatte 2015 vor dem OLG ausgesagt, das Handy sei an jenem Tag im August 1998 um 16 Uhr ausgetauscht worden. Doch daran haben die drei Opferanwälte Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach erhebliche Zweifel. Sie berufen sich auf einen als geheim eingestuften Treffbericht von damals. Demnach holte G. den V-Mann um 15 Uhr aus der Haftanstalt in Brandenburg/Havel ab. In einem Geschäft in der Potsdamer Zeppelinstraße kaufte der V-Mann-Führer zwei neue Handys, die auf dessen Tarnnamen "Dieter Borchert" liefen. Über die Übergabe und Abschaltung des alten Handys aber hatte G. in seinem Treffbericht nichts vermerkt.
Auch nach der angeblichen Abgabe des Handys gab es Verbindungen
Dennoch hatte der V-Mann-Führer vor Gericht ausdrücklich erklärt , dass er sich für seine Zeugenvernehmung durch Lektüre der Akten vorbereitet habe. Er verwies auf den Treffbericht und wiederholte auf Nachfrage, dass das Handy um 16 Uhr ausgetauscht worden sei. Die Anwälte vermuten wegen der fehlende Angaben im Geheimbericht nun, dass der Verfassungsschützer im NSU-Prozess falsch ausgesagt hat und unglaubwürdig ist - weil er die Kenntnis des Verfassungsschutzes von der "Bums"-SMS unbedingt bestreiten wollte.
Denn zudem ermittelten die Anwälte, dass mit dem angeblich abgeschalteten Handy auch noch nach 16 Uhr Verbindungen aufgebaut wurden, was der Aussage des V-Mann-Führers widerspricht. Da G. laut Treffbericht Szczepanski erst um 20 Uhr wieder im Knast ablieferte, glauben die Anwälte, dass der Verfassungsschützer die SMS von Jan Werner mitbekommen haben muss.
Es gab eine Spur zum NSU, doch Brandenburg verwischte sie
Der Vorwurf der Anwälte in ihrem Beweisantrag lautet, dass Brandenburgs Verfassungsschutz die Fahndung der Polizei nach dem NSU-Trio fehlgeleitet, „gezielt in die Irre geführt“, hat. Denn „Piatto“ hatte auch mit dem neuen, laut Mobilfunkanbieter am 25. August aktivierten Handy wieder Kontakt zu Werner. Sie vereinbarten ein Treffen, sechs Tage nach dem angeblichen Handytausch ging es in einer SMS vom neuen Handy auch um ein „Magazin“, möglicherweise für Waffen. Doch die Thüringer Fahnder konnten mit dem nun „legendierten“ Handyinhaber "Dieter Borchert", wohnhaft in der Zeppelinstraße in Potsdam, nichts anfangen.
Die Spur zum Innenministerium in Brandenburg war verwischt. Genau zu jenem Zeitpunkt, als ein NSU-Unterstützer über einen V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes versuchte, an Waffen zu gelangen, hätte die Brandenburger Behörde es den Fahnern der Thüringer Polizei unmöglich gemacht, die Akteure zuzuorden. Eine der wenigen Spuren zu den untergerauchten Neonazis Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wurde verwischt. Zwei Jahre später begann die NSU-Mordserie.
DIE REAKTIONEN
Der NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags, der am Freitag Experten zur organisierten gewaltbereiten Neonaziszene in der Zeit von 1990 bis heute anhört, kennt den internen Vermerk des Verfassungsschutzes bislang nicht. Auf PNN-Anfrage forderten mehrere Mitglieder des Ausschusses Aufklärung vom Innenministerium und dessen Verfassungsschutzabteilung.
CDU-Obmann Jan Redmann erklärte, man werde im Ausschuss darauf dringen, Einsicht in den Vermerk zu nehmen. Volkmar Schöneburg, Obmann der Linksfraktion im Untersuchungsausschuss, sagt den PNN: "Wenn das stimmen sollte, würde es sehr abweichen von dem, was bisher durch die Sicherheitsbehörden in Brandenburg bekannt wurde. Die Darstellung des Verfassungsschutzes würde stark ins Wanken geraten."
Die Obfrau der Grünen, Ursula Nonnemacher, wies darauf hin, dass vier Verfassungsschutz bislang behauptet habe, von der "Bums"-SMS bislang nicht gewusst zu haben, angeblich weil das von "Piatto" am fraglichen Tag im August 1998 zufällig eingezogen worden sei. "Das klang schon bisher wenig überzeugend", sagte Nonnemacher. "Aufhorchen lassen muss, dass sich das Innenministerium bezüglich des Übergabe-Zeitpunkts gar nicht eindeutig festgelegt hat." Die Grünen-Politikern erinnert daran, dass der Verfassungsschutz in der Parlamentarischen Kontrollkommission bislang nur berichtet habe, dass das alte Handy des V-Manns - wörtlich - "wohl" vor der Empfang der SMS übergeben worden sei. "Der Antrag der Nebenkläger im Münchener NSU-Prozess bringt nun offenbar neue Ungereimtheiten zutage", sagte Nonnemacher. "Der Verfassungs schutz täte gut daran, gegenüber dem Untersuchungsausschuss die zahlreichen offenen Fragen zu dem Vorgang lückenlos zu beantworten."
Das Innenministerium wurde von den neuen Details im Fall "Piatto" regelrecht überrumpelt. Ein Ministeriumssprecher sagte, man werde sich alles gründlich anschauen und die Vorwürfe prüfen. "Ob dem so ist, dazu müssen wir uns die Unterlagen ansehen", sagte der Sprecher.