Die Leiterin des Rathenower Kulturzentrums ist sauer: Ohne Durchsuchungsbeschluss verschaffte sich die Polizei Zugang zu den geschlossenen Räumen einer Ausstellung. Danach fehlten alle Broschüren. Vorausgegangen war eine Anzeige des Pegida nahestehenden Bürgerbündnisses, das sich durch den Inhalt des Heftes beleidigt fühlt.
Rathenow. Ohne Durchsuchungsbeschluss verschafften sich Polizeibeamte am Mittwochabend Zugang zum bereits verschlossenen Foyer des Rathenower Kulturzentrums, um ein Heft der aktuellen Ausstellung „Werkschau der Freunde der toten Kinder“ zu beschlagnahmen. Die „Freunde der toten Kinder“ sind eine Vereinigung von Rathenower Kulturschaffenden, die sich mit Aktionen gegen die Demonstrationen des Bürgerbündnisses wendet, das der Pegida-Bewegung sehr ähnlich ist.
Die Leiterin des Kulturzentrums, Bettina Götze, erfuhr die Details erst am Donnerstag. „Wie mir ein Mitarbeiter berichtete, hielt sich der Sprecher des sogenannten Bürgerbündnisses Havelland, Christian Kaiser, noch nach einer Stadtverordnetenversammlung, die zuvor in der oberen Etage stattfand, im Foyer auf.“ Dem Mitarbeiter habe Kaiser erklärt, er habe eine Anzeige erstattet und werde warten, bis die Polizei kommt. Etwa gegen 18.15 Uhr trafen die Beamten ein und forderten das Restaurantpersonal des Hauses (die Gaststätte war noch geöffnet) auf, ihnen Zutritt zum Foyer des Kulturzentrums zu gewähren.
Es fehlen 25 bis 30 Hefte
Danach fehlten alle 25 bis 30 Hefte, die sämtliche Aktionen der „Freunde der toten Kinder“ dokumentieren. Im Einsatzprotokoll der Polizei ist allerdings nur von einem beschlagnahmten Heft die Rede. Was mit den anderen Heften passierte, ist unklar. „Ich bin empört und finde das alles sehr merkwürdig“, so Götze. Und weiter: „Es war keine Gefahr im Verzug. Die Polizei hätte mich am Morgen anrufen und die Sache mit mir besprechen können. So kann man einfach nicht agieren.“
Bevor die Polizei am Mittwochabend zur Tat schritt, hatte sich Christian Kaiser, der Kopf des Bürgerbündnisses, in der Einwohnerfragestunde der Stadtverordnetenversammlung zu Wort gemeldet. Die Werkschau erfülle den Strafgesetztatbestand der „Üblen Nachrede“ und verstoße gegen das Grundgesetz. Polizeisprecher Axel Schugardt bestätigte, dass die Polizei „von einer Privatperson“ angerufen wurde. Diese habe Anzeige erstattet wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Schugardt: „Die Polizei ist verpflichtet, Straftaten zu verfolgen.“
Die Polizisten hätten ein Broschürenexemplar mitgenommen. Neben dem Tatbestand der Beleidigung komme ein Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz in Betracht. Zum Zeitpunkt des Eintreffens der Polizeibeamten, kurz nach 18 Uhr, sei das Kulturzentrum bereits geschlossen gewesen. Schugardt: „Der Anzeigenerstatter verabredete mit dem Personal des Restaurants, dass die Durchgangstür zum Kulturzentrum geöffnet wird.“ Dies sei so geschehen.
Offene Fragen
Die Frage, ob die Polizei Bettina Götze hätte verständigen müssen und weshalb es keinen Durchsuchungsbeschluss für die Räume des zu dem Zeitpunkt bereits geschlossenen Kulturzentrums gab, blieb am Donnerstag unbeantwortet.
Sowohl auf der Straße als auch in den sozialen Netzwerken mehrten sich im Lauf des Tages die Stimmen, die das Handeln der Polizei scharf kritisieren. „Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Begründung und Benennung der rechtlichen Grundlagen für das Vorgehen der Polizei. Auch gerade deshalb, weil es sich um den zweiten Vorfall dieser Art handelt“, erklärte Martin Gorholt, Vorsitzender der SPD Havelland, gegenüber der MAZ.
Ähnlicher Fall im Frühjahr
Gorholt spricht damit auf einen ähnlichen Fall von Ende April an. Die Beamte hatten damals ein Plakat der Künstlergruppe beschlagnahmt. Auch in diesem Fall hatten die Beamten aufgrund einer Anzeige des Sprechers des Bürgerbündnis Havelland, Christian Kaiser, gehandelt.
Ingo Decker, Pressesprecher des Brandenburgischen Innenministeriums, erklärte dazu, dass jede polizeiliche Handlung eine rechtliche Grundlage haben muss. Beim Innenministerium sei das Thema in den richtigen Händen, findet der CDU-Stadtverordnete René Hill.
Unverständnis bei der SPD
Hartmut Rubach, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins äußerte sich auf dem sozialen Netzwerk Facebook: „Ich kann nur mein Unverständnis äußern über die neuerliche Aktion der Polizei“, erklärte Hartmut Rubach. Daniel Golze, Vorsitzender der Linksfraktion in der Stadtverordnetenversammlung, bemerkte: „Es geht nicht um die Anzeige von Christian Kaiser, sondern um den rechtswidrigen Akt der Polizei.“ Christian Kaiser selbst schrieb nach seinem Besuch der Ausstellung auf Facebook: „Alle Mitglieder des ‚Aktionsbündnis aus Rathenow’ sowie jeder einzelne der ‚anonymen Freunde der toten Kinder’ sind rückgratlose faschistische Hetzer.“
Noch Mittwochnacht meldete sich die Künstlergruppe zu Wort: „Das hat Deutschland lange nicht mehr erlebt: Dass oben im Sitzungssaal ein Rechtspopulist seine Reden schwingt – und anschließend unten im Foyer per Polizeieinsatz eine kritische Ausstellung beschädigen lässt.“ Und weiter: „Die Polizei einer brandenburgischen Kleinstadt verlässt ihren grundgesetzlichen Auftrag, die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst zu schützen, und macht sich zum Vollstrecker privater rechter Allmachtsfantasien. Zum ersten Mal haben wir Angst um unsere Stadt.“
Seeger fordert Aufklärung
Rückhaltlose Aufklärung fordert derweil Rathenows Bürgermeister Ronald Seeger: „Ich habe von dem Vorgang am Donnerstag erfahren und kann jetzt nur appellieren, dass sich alle, die damit befasst sind, an einer Aufklärung dessen mitwirken, was da passiert ist.“
Die Werkschau der anonymen Künstlergruppe ist seit dem Wochenende zu sehen. Weitere Ausstellungskataloge sind noch vorhanden. Die Werkschau ist bis zum 30. Oktober geöffnet.
Von Christin Schmidt