Flüchtlingsbeauftragte Aydan Özoguz: „In Sachsen funktioniert vieles nicht“

Erstveröffentlicht: 
15.10.2016
Flüchtlingsbeauftragte

Aydan Özoguz: „In Sachsen funktioniert vieles nicht“

Berlin.  Das sagt Aydan Özuguz, die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, über politische Fehler im Fall des Terrorverdächtigen al-Bakr.

Der Freitod des mutmaßlichen Terroristen Dschaber al-Bakr in der Leipziger Gefängniszelle muss politische Konsequenzen haben – nicht nur in Sachsen. Davon ist die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Aydan Özoguz (SPD), überzeugt.

Frau Özoguz, der Suizid des syrischen Terrorverdächtigen sorgt bundesweit für Fassungslosigkeit. Wer trägt die Verantwortung für diesen Skandal?

Aydan Özoguz: Die sächsische Justiz hat hier völlig versagt. Es wurde offenbar verkannt, dass ein mutmaßlicher Terrorist anders behandelt werden muss als ein gewöhnlicher Krimineller. Stattdessen wird einer Psychologin die Verantwortung zugeschoben. Nein, die Politik in Sachsen hat wirklich keinen Grund, sich zurücklehnen und zu sagen, wir haben alles richtig gemacht. Es muss jetzt eine lückenlose Aufklärung geben.

Die JVA Leipzig hat keinerlei Erfahrung mit Terroristen. Hätte man das vorher wissen müssen?

Wenn jemand festgenommen wird, der offenbar einen Anschlag geplant hatte, möglicherweise sich selbst in die Luft sprengen wollte, muss das alle in Alarmbereitschaft versetzen. Ich habe aber den Eindruck, die sächsische Justiz ist nach dem Prinzip 08/15 verfahren. Jetzt zu sagen, „dumm gelaufen“, reicht nicht. Ich bin fassungslos, dass ein mutmaßlicher Terrorist jetzt nicht mehr vernommen und vor Gericht gestellt werden kann.

Ist das schon Systemversagen?

Der Fall muss uns alle aufrütteln. Es gibt offenbar Regionen in Deutschland, die den Herausforderungen solcher Terrorszenarien nicht gewachsen sind. Das Land Sachsen ist hier deutlich an seine Grenzen gestoßen. Wir müssen auf Bundesebene jetzt darüber sprechen, wie mit Terrorverdächtigen umzugehen ist. Es muss klare Vorgaben zwischen Bund und Ländern geben, damit am Ende nicht einzelnen Bediensteten die Verantwortung zugeschoben wird.

Schon wieder Sachsen, schon wieder staatliches Versagen. Wie erklären Sie sich das?

Mich erschreckt, dass die sächsische Politik die gemachten Fehler nicht klar benennt. Der Justizminister hat nicht einmal erklärt, dass er Konsequenzen ziehen und Dinge ändern wolle. Es gab kein Wort dazu, an welchen Stellen es jetzt Überprüfungen der bisherigen Praxis geben soll. Leider kommt dieses Verhalten in Sachsen häufiger vor. Das ist nicht nur schlecht für Sachsen.

„Da läuft etwas sehr verkehrt in Sachsen“, sagten Sie nach den fremdenfeindlichen Übergriffen auf Flüchtlinge im vergangenen Winter. Ist Ihr Urteil aus heutiger Sicht sogar zu milde?

Diesen Eindruck habe ich noch immer, und jetzt ist eine weitere Dimension hinzugekommen. Ein sehr großer Anteil der Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte findet in Sachsen statt. Das muss leider so deutlich benannt werden. Viele Ehrenamtliche in Sachsen berichten mir, wie sie angefeindet werden, nur weil sie sich um Flüchtlinge kümmern. Wenn jetzt die Behörden sogar in der Justiz versagen, muss man feststellen: In Sachsen funktioniert vieles nicht. Darunter leiden vor allem die sächsischen Bürger, von denen die meisten nichts für den Zustand des Landes können.

Was kann Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich tun?

Herr Tillich muss jetzt auf den Tisch hauen. Er sollte sagen, dass Sachsen nicht das Bundesland bleiben will, das ständig Negativschlagzeilen schreibt. Und er sollte deutlich machen, dass Sachsen Teil eines weltoffenen Deutschlands sein will. Das Gefühl hat man leider nicht – weder gesellschaftlich, noch politisch. Warum sagt Tillich nicht: Das ist eine Schande für Sachsen und das dulden wir nicht. Warum ist das so schwer? Ich verstehe es nicht.

Das Staatsversagen nahm bereits am vergangenen Wochenende seinen Lauf, als nicht die Polizei, sondern drei Syrer den Terrorverdächtigen überwältigten. Verändert dieser Vorgang womöglich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen allgemein?

Das hoffe ich. Tausende Syrer hatten den Fahndungsaufruf in den sozialen Netzwerken geteilt. Sie haben deutlich gemacht, dass sie wie wir Terror ablehnen und bekämpfen wollen. Wir sollten die hier lebenden Flüchtlinge deshalb ermutigen, dass wir in solchen Situationen ihre Unterstützung brauchen, statt sie unter Generalverdacht zu stellen.

Aus dem Bundestag kommt der Vorschlag, den drei Syrern das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Eine gute Idee?

Man muss die Vorhaltungen des Verstorbenen prüfen, der den drei Landsleuten eine Mitwisserschaft unterstellt hat. Wenn sich davon nichts bestätigt, diese Männer also unbescholten sind, wäre eine öffentliche Würdigung ein sehr gutes Zeichen. Das Bundesverdienstkreuz wäre dann angemessen. Es ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit, einen Terroristen zu überwältigen.

Der Fall hat die Sicherheitsdebatte neu entfacht. Sollten auch Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst ankommende Flüchtlinge überprüfen?

Mich stört der Aktionismus. Erst im Februar ist ein Gesetz zum besseren Datenaustausch zwischen den Behörden in Kraft getreten. Das BAMF und die Sicherheitsbehörden können also schon die Daten austauschen. Die Unionspolitiker reden mit ihren Forderungen ihre eigene Politik schlecht.

Nach den Anschlägen im Sommer will Thomas de Maizière die Abschieberegeln verschärfen. Waren die deutschen Behörden bisher zu sanft?

Nein, teilweise konnten wir gar nicht abschieben, weil die entsprechenden Herkunftsländer nicht kooperiert haben. Da hakt es immer noch. Zugleich sprechen wir viel zu wenig über den Erfolg bei der sogenannten freiwilligen Rückkehr. Es gab im ersten Halbjahr 30.530 geförderte freiwillige Rückkehrer gegenüber 16.432 Abschiebungen. Das zeigt, dass wir bei abgelehnten Asylbewerbern verstärkt auf die freiwillige Ausreise setzen sollten. Dafür müssen wir aber diese Programme deutlich besser ausstatten.