Neue Zahlen zeigen: Man hätte sich viel Hysterie um die Flüchtlingswanderung sparen können. Denn es kamen weniger als gedacht – und fast genauso viele wie erwartet.
Eine lapidare Pressemitteilung widerlegt ein Märchen, das die politische Landschaft Deutschlands in den vergangenen zwölf Monaten umgewälzt und Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Wanken gebracht hat. Das Bundesinnenministerium hat sie an diesem Freitag verschickt. Darin steht: "Die Zahl der Zugänge von Asylsuchenden beläuft sich für das abgelaufene Jahr auf rund 890.000."
890.000 Flüchtlinge. Nicht: 1,1 Millionen. Genau genommen sind es sogar noch 50.000 weniger. Denn so viele Menschen haben ihr Asylverfahren nicht weiterbetrieben und sind nach Einschätzung des Innenministeriums vermutlich weitergereist.
Es gibt noch eine zweite Zahl. Sie stammt ebenfalls aus dem Innenministerium. Thomas de Maizière nannte sie im August 2015, als er die Jahresprognose zur Zahl der Asylbewerber vorstellte. Damals rechnete das Ministerium damit, dass 2015 rund 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. Immerhin waren bis Ende Juli schon mehr als 300.000 Menschen gekommen.
Wichtig an der zweiten Zahl ist das Datum, zu dem sie veröffentlicht wurde: der 19. August 2015. Das war, bevor sich Tausende Flüchtlinge am Budapester Bahnhof Keleti sammelten. Bevor Merkel und Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann in jener dramatischen Nacht vom 4. auf den 5. September die Entscheidung trafen, die Flüchtlinge, die sich zu Fuß von Budapest aus Richtung Westen aufgemacht hatten, nicht länger der ungarischen Willkür zu überlassen. Es war auch, bevor das berühmte Selfie der Kanzlerin mit einem Flüchtling aufgenommen wurde.
Es stimmt: Im September sprang die Zahl der Ankommenden auf rund 160.000. Aber die Dynamik war vorher schon da. Die Verantwortlichen wussten schon im August, was sich jetzt bestätigte: 800.000 Flüchtlinge wurden angekündigt. 890.000 kamen.
Diese beiden Zahlen sind ein weiterer Beleg dafür, dass die Behauptung falsch ist, Merkel habe durch ihre humanitäre Geste eine Völkerwanderung in Gang gesetzt und die Flüchtlinge erst ins Land gerufen. Die Menschen hatten sich längst aufgemacht.
Die Zahlen sind auch ein Hinweis, dass der Kontrollverlust der deutschen Behörden in den Herbstmonaten so groß nicht hätte sein müssen. Bundesländer und Kommunen hätten schon am 20. August vergangenen Jahres beginnen können, Baumärkte auszufegen und Traglufthallen aufzublasen.
Schließlich zeigen die Zahlen, dass die politische und mediale Hysterie, die den ersten Wochen der Willkommenskultur folgte, leiser hätte ausfallen können. Ja, es kamen sehr viele Schutzsuchende und haben das Land vor eine große Aufgabe gestellt. Aber niemand kann sagen, dass es jene Tage im Herbst 2015 waren, die die Lage grundsätzlich geändert haben.