Ein neues Kapitel im Wirtschaftskrimi um den Leipziger Internetkonzern Unister: Weil die Not groß war, konnten dort zwei ehemalige Neonazis großen Einfluss gewinnen.
Sie hatten es sich gemütlich gemacht, daheim in Markkleeberg. Daniel Kirchhof und seine Frau Karen saßen auf dem Sofa und sahen fern, als sie plötzlich auf Bilder einer dunklen Vergangenheit blickten. Im ZDF lief die Dokumentation „Die neuen Nazis“ über Rechtsradikale, die unmittelbar nach dem Mauerfall im Osten ihr Heil suchten. Eine Szene von 1990 zeigt einen jungen Redner beim Gründungstreffen der Republikaner in Leipzig: groß, schlank, dunkle Haare, österreichischer Dialekt. „Mensch, das ist ja der Reinhard“, sagte Karen Kirchhof zu ihrem Mann. Ausgerechnet Reinhard Rade. Er ist seit Jahren ein Freund des Paares. Und ein Geschäftspartner. Dass er ihnen geholfen hat, als sie ganz unten waren, haben sie ihm nicht vergessen.
Als die Kirchhofs vergangene Woche davon erzählen, sitzen sie in der Lobby eines Leipziger Hotels. Sie ist hochschwanger, das Paar erwartet sein viertes Kind. Beide wirken angespannt, aber das hat andere Gründe. Hinter ihnen liegen dramatische Wochen. Daniel Kirchhof, 38, gehörte viele Jahre zur Führungsspitze der Leipziger Internetfirma Unister, bis er sich mit Gründer Thomas Wagner zerstritt. Beide prägten ein ostdeutsches Unternehmermärchen. Es handelt vom Start-up einiger Studenten, das sich innerhalb weniger Jahre mit Marken wie ab-in-den-urlaub.de, fluege.de oder Travel24 zu einem führenden deutschen Online-Reiseportal mit bis zu 1 800 Mitarbeitern aufgeschwungen hatte.
Doch Mitte Juli stürzten Unister-Chef Wagner und drei weitere Menschen nach einem mysteriösen Geschäftstreffen in Venedig mit einem Charterflugzeug in den Tod. Kurz darauf waren wesentliche Teile des Unister-Imperiums zahlungsunfähig. Damit ist auch Kirchhofs Lebenswerk weitgehend zerstört.
Mit jedem Detail, das nun bekannt wird, tun sich neue Abgründe auf. Gemeinsame Recherchen von Sächsischer Zeitung und der Wochenzeitung Die Zeit ergeben: Unbemerkt von der Öffentlichkeit und selbst hochrangigen Mitarbeitern haben zwei Männer mit schillernder Neonazi-Biografie an den Reisekonzern angedockt. Als Berater und als Teilhaber gewannen sie bei Unister Einfluss. Einer von ihnen wollte Wagner sogar aus dem Unternehmen drängen. Sein Name: Reinhard Rade.
Der Mann aus der ZDF-Doku über neue Nazis tauchte im Dezember 2012 erstmals bei Unister auf. Schon damals stand das Unternehmen mächtig unter Druck. Die Staatsanwaltschaft ließ Wohnungen mehrerer Manager durchsuchen und auch Büros in der Konzernzentrale, einem Jugendstilbau im Leipziger Barfußgässchen. Die Vorwürfe lauteten auf Versicherungs- und Computerbetrug sowie Steuerhinterziehung. Wagner und sein Kompagnon Kirchhof landeten in Untersuchungshaft. Um wieder auf freien Fuß zu kommen, sollte Kirchhof eine Kaution von 200 000 Euro zahlen, Wagner gar von 500 000 Euro. Der Chef habe sich das Geld schnell über einen Geschäftspartner besorgt, erzählt Kirchhof. Um ihn hingegen habe sich bei Unister keiner gekümmert. Seine Frau ergänzt: „Ich bin heulend in die Firma gegangen“ – also zu Unister – „und habe gesagt, dass ich nicht weiß, wie ich die nächste Anwaltsrechnung bezahlen soll. Aber da kam gar nichts“. Was dann geschah, sei Zufall gewesen: Eine Freundin habe ihr Reinhard Rade und dessen Partnerin empfohlen, eine Anwältin. Karen Kirchhof sagt, sie habe das Paar kontaktiert. Das habe nicht nur mit Trost, Rechtsberatung und einer Besuchserlaubnis fürs Gefängnis geholfen. Rade habe gar einen Teil der Kaution übernommen, dafür eines seiner Grundstücke verpfändet. Vor Weihnachten kam Kirchhof frei. „Reinhard Rade hat uns in einer Situation geholfen, die für uns schlimmer nicht hätte sein können“, sagt Karen Kirchhof.
Das Verhältnis zwischen dem Kreativkopf Wagner und Zahlenmensch Kirchhof, die zwölf Jahre lang Tür an Tür arbeiteten, privat allerdings wenig Umgang hatten, bekam nach dem kurzen Gefängnisaufenthalt tiefe Risse, später sollte daraus offene Feindschaft werden. Die Unister-Führung zerfiel und verlor zusehends die Kontrolle über das Unternehmen. Das erleichterte es immer mehr vermeintlichen Beratern, in der Firma mitzumischen. Einer von ihnen war Rade. Nach der Kautions-Episode begann er, bei Unister ein- und auszugehen.
Wenige Wochen nach der U-Haft, Anfang 2013, setzte sich Kirchhof an seinen Computer, um mehr über seinen Retter zu erfahren. „Im Internet habe ich gefunden, was vermutlich auch Sie gefunden haben“, sagt er. Was man findet, lässt einen schaudern. Geboren 1964 in Innsbruck, aufgewachsen in Oberbayern, avancierte Rade in den 1980er-Jahren zum Hoffnungsträger der Republikaner. Auch einer Wehrsportgruppe in Niederösterreich soll er angehört haben. Man würde Rade gern persönlich dazu befragen, doch ein Treffen kommt nicht zustande. Schriftlich aber weist er zurück, bei einer Wehrsportgruppe gewesen zu sein, „weil man nicht Mitglied von etwas sein kann, was es nur in der Fantasie der staatlichen Antifa gibt“.
Als Jungrepublikaner zog er in den Kreistag von Bad Tölz ein. Von dort ging es 1990 weiter nach Leipzig als „offizieller DDR-Koordinator“ der Rechtsaußen-Partei. Die verließ er dann im Streit. Er sei den Republikanern „zu extrem“ gewesen, berichtete damals die Leipziger Morgenpost.
Rades nächste Station war Kroatien, der jugoslawische Bürgerkrieg tobte. Österreichische Medien berichteten über Söldner-Einsätze, an denen der Ex-Republikaner teilgenommen habe. Schon 1989 sei er als Kämpfer in das damals politisch zerrüttete Surinam gereist. Rade bestätigt, zu jener Zeit in den Ländern gewesen zu sein, jedoch nie als „Söldner von irgendjemand im militärischen Sinne.“ Stattdessen sagt er: „Angestellter von Dritten war ich letztmalig in meiner Lehrzeit als Außenhandelskaufmann“. In Kroatien habe er Grundstücksgeschäfte gemacht. In einer Publikation des österreichischen Innenministeriums findet sich das Beispiel eines Söldners aus der Alpenrepublik, der nach seinem Einsatz an seinen Wohnort in Deutschland zurückgekehrt sei und dort mit dem Sold „aus selbst gemachter Beute“ Grundstücke gekauft und eine Firma gegründet habe.
Rade kehrte nach seinem Balkan-Trip nach Leipzig zurück, gründete dort im Juli 1992 mit 50 000 D-Mark die Firma Baubetreuung in Mitteldeutschland (BBM). Für ihn ist sie „eine von vielen Firmen, an denen ich beteiligt bin oder war“. Dazu dürfte auch eine Leipziger Abrissfirma namens Condor gehören. Die hatte 1994 ein ehemaliger Gardesoldat der österreichischen Armee ins Leben gerufen. Und die von Rade gegründete Technische Handels-GmbH (THG) brachte ihn 2002 sogar in die Schlagzeilen, als sie neun ausrangierte Armeehubschrauber zum Stückpreis von 100 000 Mark erwarb. „Bundeswehrpiloten lieferten die Helikopter vor den Toren eines Hangars auf dem Flugplatz Oppin im Saalekreis ab“, schrieb der Spiegel. Danach wurde es ruhig um den Unternehmer. Erst 2015 fiel er wieder auf, im Dunstkreis der Legida-Bewegung. Er gehe dort ab und an mit, sagt Rade. Ansonsten sei er seit 20 Jahren nicht mehr politisch aktiv. Er stehe jedoch nach wie vor „auf der Seite der unbedingten Meinungsfreiheit, auf der Seite der Ablehnung jedweder staatlichen Willkür“.
Kirchhof beteuert, er habe mit Rades Gesinnung nichts zu tun. Ausgerechnet der Manager einer Firma, die ihren bisherigen Erfolg auch dem optimierten Einsatz von Internet-Suchmaschinen verdankt, sagt, er habe nicht bis ins Letzte wissen wollen, wohin die Websuche nach Reinhard Rade führe. Ihre Freundschaft aber bestehe bis heute. „Er ist eloquent und kann sehr überzeugend sein, aber ich teile seine Ansichten nicht“, sagt Kirchhof. Seine Frau beteuert: „Wir sind völlig anders, unsere Kinder sind getauft, ich engagiere mich in der Kirche.“
Mitunter sieht man Kirchhof an, wie unangenehm ihm das Thema ist. Etwa wenn es darum geht, jene Unister-Geschäfte zu erläutern, bei denen Rade mitmischte. Geschäfte, die Kirchhof als Gesellschafter und Aufsichtsratschef der Unister-Tochterfirma Travel24 hätte überblicken müssen. War Rades Einfluss der Grund, warum Kirchhof und Wagner begannen, sich öffentlich zu befehden? Immerhin gibt Kirchhof zu, er habe mitbekommen, dass sich nach Rade ein zweiter Mann aus rechtsextremen Kreisen bei Unister einklinkte. Dessen Namen habe er erstmals Ende 2015 in einer Pflichtmitteilung der börsennotierten Konzerntochter Travel24 gelesen: Hans Jörg Schimanek.
Nach ab-in-den-Urlaub.de und fluege.de ist Travel24 die bekannteste Marke im Unister-Reich, quasi ein Konzern im Konzern. Über sie planten die Leipziger sogar den Einstieg in den deutschen Hotelmarkt. Davon ist jedoch bis heute wenig bis nichts zu sehen. Der Hauptgrund dafür ist die undurchsichtige Rolle, die die zweitgrößte Aktionärin der Travel24 spielt, eine Schweizer Firma namens Loet Holding AG, beherrscht von Hans Jörg Schimanek.
Rade kennt ihn gut, daraus macht er gar keinen Hehl: „Er ist einer meiner besten Freunde, seit meinem 16. Lebensjahr“. Die Vergangenheit Schimaneks, 1963 in Niederösterreich geboren, ist noch radikaler als die Rades. Videos im Internet zeigen Schimanek bei Wehrsportübungen. Gemeinsam mit Rade soll er in Surinam und Kroatien gewesen sein. In den 1990er-Jahren ermitteln Staatsanwälte in Österreich gegen Schimanek wegen Neonazi-Aktivitäten. Kurzfristig steht er unter Verdacht, am Briefbombenattentat auf den damaligen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk beteiligt gewesen zu sein, weil während der Ermittlungen in einem Notizbuch sein Name und eine Leipziger Telefonnummer entdeckt wurden. Die Nummer gehörte zur Rade-Firma BBM.
Dorthin hatte Schimanek um 1994 Zuflucht gesucht. Der Zeitung Kurier in Wien sagte Schimanek damals, er sei der „Demolierer in der ehemaligen DDR“, kaufe im Osten Wohnungen und lasse dort „Kameraden“ den Putz von den Wänden schlagen. Kurz darauf wurde er verhaftet und in Österreich wegen „nationalsozialistischer Wiederbetätigung“ – nicht aber wegen einer Beteiligung am Briefbombenattentat – zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. 1999 kam er vorzeitig frei, kehrte nach Leipzig zurück und wieder half Rade. Und so ist dessen Jugendfreund Schimanek bei der Leipziger BBM bis heute Gesellschafter, beim Abriss- und Immobilienunternehmen.