Arbeitsmarkt: Warum der Mindestlohn den Aufstockern kaum hilft

Erstveröffentlicht: 
01.08.2016

Seit eineinhalb Jahren gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn. Nur wenige Vollzeitbeschäftigte kommen wegen der 8,50 Euro je Stunde aus Hartz IV heraus.

 

Seit eineinhalb Jahren gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde. Mittlerweile ist schon seine Anhebung auf 8,84 Euro zum 1. Januar 2017 beschlossen. Seine Verfechter sind erleichtert. „Der Mindestlohn ist eine absolute Erfolgsgeschichte“, sagte Yasmin Fahimi, Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, vor kurzem auf einer Fachtagung in Nürnberg.

 

Die SPD-Politikerin kann darauf verweisen, dass der deutsche Arbeitsmarkt seit der Einführung nicht zusammengebrochen ist. Im Gegenteil, die Beschäftigung ist noch gestiegen, die Arbeitslosenzahlen sind zunächst weiter gesunken. Erst seit kurzem macht sich die steigende Zahl von Flüchtlingen auch in der Statistik bemerkbar. Weil das Gros der Flüchtlinge mangels Sprachkenntnissen und fachlicher Qualifikation extrem schwierig in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist, fordern einige Ökonomen wie der Wirtschaftsweise Lars Feld für diese Gruppe dieselben Ausnahmegenehmigungen wie für Langzeitarbeitslose. Im Großen und Ganzen lässt sich aber festhalten, dass sich die dunkelsten Prognosen von Arbeitsplatzverlust im großen Stil nicht bewahrheitet haben.

 

Unter dem Jubel der Mindestlohn-Befürworter geht allerdings gern die Frage unter, wie es um eines der Hauptversprechen steht, mit dem für seine Einführung geworben wurde: Gewerkschaften, Linke und auch einige Wissenschaftler hatten argumentiert, ein Mindestlohn werde die Zahl der „Aufstocker“ in Deutschland spürbar reduzieren. Damit sind Menschen gemeint, die sowohl ein Erwerbseinkommen als auch Hartz-IV-Leistungen beziehen. In Spitzenzeiten führte die Bundesagentur für Arbeit fast 1,4 Millionen von ihnen in ihrer Statistik. „Arm trotz Arbeit“ lautete der Slogan, mit dem seinerzeit die Mindestlohn-Kampagne befeuert wurde.

 

Heute haben sich diese Hoffnungen weitestgehend erledigt. „Die Effekte des Mindestlohns auf die Aufstocker sind sehr gering“, sagt Joachim Möller, Direktor des staatlichen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und selbst ein Verfechter eines maßvollen Mindestlohns. Der Rückgang der Aufstockerzahl, der schon Jahre vor dem Mindestlohn begann, hat sich seitdem fortgesetzt. Laut Möller sind es nach neuesten Daten wohl weniger als 20 000 Personen, die speziell durch den Stundenlohn von 8,50 Euro nicht mehr auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. „Wir hatten mit 60 000 gerechnet“, räumt er ein. Der Grund dafür ist schnell gefunden. „Die meisten Aufstocker arbeiten nur wenige Stunden in der Woche“, sagt Möller.

 

Was er damit meint, wird klar, wenn man sich anschaut, wie sich die Gruppe der Aufstocker zusammensetzt. Aktuell sind nur rund 177 000 dieser Personen Vollzeit beschäftigt. „Wenn jemand für 8,50 Euro Vollzeit arbeitet, ist er definitiv aus der Sozialhilfeabhängigkeit heraus“, sagt Hilmar Schneider, Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit. Wenn Menschen trotz des Mindestlohns noch ergänzende Sozialhilfe beziehen, dann liegt das laut Schneider vor allem daran, dass sie - aus den unterschiedlichsten Gründen - nur einen Minijob oder eine Teilzeittätigkeit ausüben. „Diesen Menschen hilft der Mindestlohn nicht, aus der Sozialhilfeabhängigkeit herauszukommen.“

 

Denn ein Minijob, der offiziell „geringfügige Beschäftigung“ heißt, erlaubt einen maximalen Verdienst von 450 Euro im Monat. Hartz-IV-Empfänger dürfen 170 Euro davon anrechnungsfrei hinzuverdienen, der Rest wird vom Arbeitslosengeld II abgezogen. Bei einer so geringen Stundenzahl kann ein Mindestlohn nicht die Bedürftigkeit aus der Sozialhilfe beenden.

 

Mindestlohn als Instrument der Armutsbekämpfung?

 

Doch auch für die 177 000 Vollzeitkräfte beendet der Mindestlohn nicht automatisch die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Denn die Frage, ob jemand Hartz-IV-Leistungen bezieht, richtet sich nicht nur nach seinem Verdienst, sondern danach, wie viele Personen davon leben müssen. Ein Geringverdiener kann vielleicht allein von seinem Geld leben - um eine vierköpfige Familie durchzufüttern, reicht es jedoch nicht. Schon zuvor hatte das IAB nur auf die rund 60.000 alleinstehenden Vollzeitaufstocker geschielt, für die eine Verbesserung möglich erschienen war. Nicht mal in jedem dritten Fall trat diese ein.

 

Für Schneider liegt die Erkenntnis auf der Hand: „Im Grunde belegen die Zahlen, dass der Mindestlohn als Instrument der Armutsbekämpfung eine Fiktion ist.“ Dass man diese Bilanz auch ganz anders interpretieren kann, haben Verdi und die Linkspartei vor dem Beschluss zur jüngsten Anhebung bewiesen. Dass der Mindestlohn bislang noch nicht die gewünschte Wirkung im Kampf gegen Armut und den Niedriglohnsektor entfaltet hat, liegt aus ihrer Sicht daran, dass er noch viel zu niedrig ist - weshalb er rasch auf 10 beziehungsweise 12 Euro angehoben werden müsse. Die Debatte dürfte also noch lange nicht zu Ende sein.