Welche Rolle spielten die Angeklagten Carsten S. und Ralf Wohlleben? Im NSU-Prozess sagte nun ein Zeuge zu einer Prügelattacke an der Endhaltestelle einer Jenaer Straßenbahn aus.
Es ist schon fast ein Running Gag im NSU-Prozess, wenn der Vorsitzende Manfred Götzl den Zschäpe-Vertrauensverteidiger Mathias Grasel wieder einmal fragt, wann denn mit Antworten seiner Mandantin auf weitere Fragen an sie zu rechnen sei. Unlängst hatten Vertreter der Nebenklage eine lange Liste vorgelegt. Grasel verzieht keine Miene, wenn er dann, etwas betreten, antwortet: "Es ist nach wie vor nicht abschließend besprochen."
Denn der Anwalt, von dem der Zeitpunkt der Antworten offensichtlich abhängt, lässt sich nur in großen Abständen im Gerichtssaal blicken: Grasels Kanzleikollege Hermann Borchert. Und wenn er da ist, dann um mitzuteilen, dass er noch viel Zeit benötige. Nun fügte Grasel auf die Frage nach Antworten hinzu: "Vor der Sommerpause wohl nicht." Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten wie aus der Pistole geschossen: "Dieses Jahr oder erst nächstes?"
Der Senat wird in absehbarer Zeit sein Beweisprogramm abgearbeitet haben. Was wird passieren, wenn die Anwälte von Zschäpes Vertrauen dann noch immer nicht mit ihren Besprechungen fertig sind? Welch eine Vorstellung: Der Staatsschutz-Senat des Münchner Oberlandesgerichts, abhängig von der Kooperationsbereitschaft zweier Anwälte, die beide mit der Prozessmaterie allenfalls bruchstückhaft vertraut sind. Grasel hat von dem mittlerweile drei Jahre und vier Monate währenden Strafverfahren nur zwölf Monate selbst mitbekommen, und Borcherts Erscheinen lässt sich an zwei Händen abzählen.
"Ich war jung und verwirrt"
Da das Thema Zschäpe also derzeit auf Eis liegt, beschäftigt sich das Gericht mit Ralf Wohlleben und der Frage, ob er nicht doch gewalttätig und ausländerfeindlich gewesen sei, was seine Verteidigung unter Aufbietung aller strategischen Kunst zu widerlegen versucht. Hauptangriffsziel: der Mitangeklagte Carsten S., der Wohlleben schwer belastet.
Am heutigen Donnerstag wurden Zeugen über einen Vorfall befragt, der sich Ende der Neunzigerjahre an der Endhaltestelle einer Straßenbahn in Jena-Winzerla zugetragen haben soll. Carsten S., der damals in der rechten Szene aktiv war, hatte in seinem Geständnis vor Gericht von Übergriffen, Schlägen und Tritten gegen Andersdenkende und Personen fremder Herkunft berichtet. Auch von einer brutalen Auseinandersetzung an jener Haltestelle war dabei die Rede.
Einer der Zeugen, 33 Jahre alt, freiberuflicher Musiker, ein nicht gerade wortmächtiger junger Mann, der damals den Rechten hinterherlief und bei dem 2000/2001 offenbar ein Sinneswandel eintrat, bemühte sich redlich, aus den Fetzen seiner Erinnerung ("Ich war jung und verwirrt, es gab keine gesunde Streitkultur, aber viel Aggression und viele Konflikte") ein Bild von den Charakteren Carsten S. und Wohlleben zusammenzusetzen.
Wohlleben soll damals auf das Gesicht eines Opfers eingetreten haben. Der Zeuge erinnert sich nicht, ob er selbst dabei war. Vielleicht erfuhr er durch Carsten S. von der Tat, vielleicht, weil man ihm bei der Polizei vorhielt, er sei dabei gewesen. Er schloss nichts aus. Denn damals sei er häufig in Auseinandersetzungen verwickelt gewesen.
Der Zeuge tat sich schwer, Erinnerungen abzurufen, für die er sich seiner Aussage nach offensichtlich schämt. Dann aber sagte er: "Der Carsten ist kein böser Mensch. Ich traue ihm nicht zu, dass er wusste, was passieren würde, wenn er die Waffe besorgt haben sollte. Es hätte damals jeden treffen können. Jeder hätte da mitgemacht. Ich bin glücklich, dass ich nicht in eine solche Situation gekommen bin." Er bezieht sich auf jene Ceska 83, die S. den untergetauchten Neonazis besorgt haben soll und mit der später neun Menschen erschossen wurden.
Von Wohlleben zeichnet der Zeuge ein distanzierteres Bild. "Er hat einen nicht herabwürdigend behandelt, aber man merkte schon, dass man sich nicht auf der gleichen Leiter befand." Wohllebens "Arroganz", ein passenderes Wort fällt ihm nicht ein, habe vermuten lassen, "dass er überall seine Finger drin hatte". Ein solch "kalkulierender Typ" macht sich aber vielleicht selbst nicht die Hände schmutzig.
Es gab einen Weg aus dem braunen Sumpf
Wohlleben-Verteidiger Olaf Klemke entlockte dem Zeugen die Aussage, viele Jüngere hätten zu Carsten S. aufgeschaut; er sei so etwas wie eine Führungsfigur gewesen. Die Anklage hingegen sieht Wohlleben, den um acht Jahre Älteren, in der Rolle einer "steuernden Zentralfigur". Der psychiatrische Sachverständige Norbert Leygraf, der Carsten S. begutachtet hatte, gab bei seiner Befragung zu bedenken, um wen es sich bei den Bewunderern von S. vermutlich gehandelt habe: vorwiegend um 13- bis 15-Jährige.
So unbeholfen die Aussage des Musikers auch klang: Dieser Zeuge war immerhin ein Beweis dafür, dass es einen Weg aus dem Sumpf des Rechtsradikalismus gab. "Ich habe irgendwann nachgedacht über diese politische Einstellung", sagte er. "Das war so ein Prozess. Man kommt dann drauf, dass alles Extreme menschenverachtend ist."
Eine solche Aussage wirft ein Licht auf Beate Zschäpes Leben mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die jahrelang Raubüberfälle, Bombenanschläge und Morde begangen haben sollen.