Polizeigewalt in Deutschland - Mit dem Gesicht im Dreck

Erstveröffentlicht: 
12.02.2016

Über 2.100 Polizisten wurden 2014 wegen Gewalttätigkeit angezeigt. Nur 33 wurden angeklagt. Ihre Opfer hingegen landen oft vor Gericht.

 

An einem Sonntagabend im Herbst 2014 will eine Band auf dem Kölner Friesenplatz „Liebe verbreiten“. Rund 30 Menschen hören zu. Ein Mann vom Ordnungsamt verbietet die elektrische Verstärkung, die Umstehenden protestieren: Es wohnten doch gar keine Anwohner in der Nähe. Man ruft die Polizei.

 

Die Beamten rücken an, angeblich kommen sie von einem Einsatz bei einem Fußballspiel, vielleicht sind sie deshalb so geladen. Ein Polizist mit langem Bart steigt mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Wagen, berichten die Musiker. Dann geschieht das hier. Der Polizist reißt den Musiker Marius Bielefeld zu Boden und drückt sein Gesicht auf das mit Glasscherben bedeckte Pflaster. Dabei verdreht er ihm den Arm. Zwei weitere Beamte unterstützen den Polizisten. Die Umstehenden beginnen zu schreien. Einer der Zuschauer filmt die Szene mit dem Handy. Später zeigt er den Polizisten an, gemeinsam mit fünf andere Zeugen.

 

Man sieht in dem Film nicht, ob und wie Marius Bielefeld sich gegen die Beamten gewehrt hat. Aber er wird angezeigt wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Bei der Verhandlung spielt der Bielefelder Anwalt Dominik Maraffa der Richterin das Handyvideo vor. Diese ist überrascht, dabei war das Video der Polizei lange zuvor übergeben worden. Marius Bielefeld wird daraufhin freigesprochen. Die Staatsanwältin verspricht, Schritte gegen den Polizisten einzuleiten.

 

Doch nichts passiert. Und auch die Anzeige der sechs Zeugen verläuft im Sande. Am Ende hat die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, ohne die sechs Anzeigenerstatter schriftlich darüber zu informieren, obwohl Staatsanwälte dazu rechtlich zwingend verpflichtet sind. Dominik Maraffa, der Anwalt des Musikers, weiß, dass der Fall beim Kölner Kommissariat untersucht wurde, hausintern also. In der Abschlussbemerkung hätten die untersuchenden Beamten geschrieben, sie sähen „keinen hinreichenden Tatverdacht“ – obwohl auch sie das Video kannten. 

 

Eine fast durchgängigen Straflosigkeit


Vor einigen Monaten hat correctiv.org erstmals genaue Zahlen zur Polizeigewalt veröffentlicht – und von der fast durchgängigen Straflosigkeit berichtet. Jetzt liegen exklusiv die Zahlen für 2014 vor: Demnach wurden in dem Jahr 2138 Polizisten wegen Körperverletzung von Bürgern angezeigt. Nur gegen 33 Polizisten haben die zuständigen Staatsanwaltschaften Anklage erhoben – ganze 1,5 Prozent. Wie viele Polizisten tatsächlich verurteilt wurden, wird nicht statistisch erhoben. Es dürfte – wenn überhaupt – eine Handvoll sein.

 

Ganz anders die Gegenseite: Wer einen Polizeibeamten anzeigt, erhält meist umgehend eine Gegenanzeige wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Diese wurden in fast allen Fällen von einer Staatsanwaltschaft zur Anklage gebracht. Rund ein Viertel der Angeklagten wurde am Ende auch verurteilt.

 

 

Martin Rätzke ist Sprecher der Organisation Victim Veto, die Opfer von Polizeigewalt vertritt. „Wird gegen Polizisten ermittelt“, sagt Rätzke, „nimmt das Bild vom Rechtsstaat immer schweren Schaden.“ Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der FU Berlin, sieht innerhalb der Polizei eine „Mauer des Schweigens“. Die Beamten verweigerten Aussagen und deckten sich gegenseitig, schreibt der Jurist in einem Aufsatz. „Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen – weder nach oben noch an die Öffentlichkeit“, hat im vergangenen Jahr Rafael Behr festgestellt, Professor an der Polizeiakademie Hamburg. Anstatt in den eigenen Reihen zu ermitteln, verfolgten Polizei und Justiz ihre Opfer. 

 

Kritik von Amnesty International und von der UNO


Kritik kommt auch von Amnesty International und dem Menschenrechtsrat der UN. Der fordert seit Jahren „unabhängige Behörden zur Strafverfolgung von Polizisten, ohne hierarchische oder institutionelle Verbindung zwischen Beschuldigtem und Ermittlern“. In Deutschland gibt es bisher nur in Rheinland-Pfalz eine unabhängige Ermittlungsstelle, die einzig dem Landtag untersteht.

 

In einigen Bundesländern existieren immerhin Beschwerdestellen in den Innenministerien. „Es wäre ein Systembruch, Ermittlungen aus der Polizei und dem Inneren herauszuziehen und in der Justiz anzusiedeln“, sagt Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Dies sei aber nötig, damit Bürger Zugang zu unabhängigen Ermittlungen erhalten.

 

 

An einem eisigen Januarmittag fährt der Rentner Ulrich Trippler mit dem Fahrrad nach Hause; er trägt nebenher Briefe aus. Trippler hat es eilig. Er leidet unter schwerer Diabetes, hat fünf Bypässe, eben hat er sich Insulin gespritzt. Nun fühlt er sich unterzuckert. Trippler fährt Schlangenlinien. Man könnte denken, er sei betrunken. Trippler bemerkt den Streifenwagen zunächst nicht. Zwei Polizisten steigen aus. Sie fordern ihn auf, in ein Alkoholmessgerät zu pusten. 

 

Zwei Streifenbeamte reißen einen Rentner zu Boden


Trippler weigert sich. Sie sollten ihm stattdessen Blut abnehmen, dann würden sie sehen, dass er zuckerkrank sei. Es kommt zum Wortgefecht, in dessen Verlauf die beiden Polizisten den Rentner zu Boden reißen und ihn dort eine Viertelstunde lang fixieren. Trippler gerät in Panik. Er sagt den Beamten, er sei krank, er habe mehrere Bypässe. Das könne ja jeder behaupten, ist ihre Antwort.

 

So hat es Trippler vor Gericht bezeugt. Es gibt einen, der Tripplers Darstellung bestätigt: Klaus Krawietz, viele Jahre Schöffe an Göttinger Gerichten. An jenem Tag steht Krawietz in der Küche seines Hauses, als er Gebrüll hört. Er sieht einen älteren Herren auf dem Gehweg liegen, über ihm zwei Polizisten, die sein Gesicht in den Splitt pressen. „Wie ein Stück Vieh wurde der Mann auf den Boden gedrückt“, sagt Krawietz später aus. „Der ganze Einsatz war vollkommen überzogen und nicht nachvollziehbar.“

 

In Handschellen wird Trippler auf das Präsidium gebracht. Als er schließlich pustet, zeigt das Messgerät einen Alkoholwert von 0,0 Promille an. Trippler kann gehen. Doch er will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, hat Todesangst gelitten, seine Hose ist kaputt, die Haut am Knie aufgeschürft, er hat Blutergüsse und Kratzer. Ein Arzt attestiert die Verletzungen. 

 

„Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“?


Trippler ruft bei der Polizei an: Er wolle Anzeige erstatten und schildert einer Sachbearbeiterin den Vorfall. Kurz darauf ruft ein Vorgesetzter zurück und lädt ihn zu einem Gespräch ein. Trippler lehnt ab und besteht auf einer schriftlichen Anzeige. Als er sie erstatten will, bekommt er seinerseits eine Anzeige vorgelegt, wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Der Rentner habe die Beamten getreten.

 

Es kommt zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Göttingen. Drei Polizisten waren an dem Einsatz beteiligt, übereinstimmend sagen sie aus: Trippler habe sich massiv gewehrt, um sich der Kontrolle zu entziehen. „Obwohl einer der Beamten ja im Auto sitzen blieb“, sagt Trippler. Er soll 200 Euro zahlen und weigert sich. Bei einem zweiten Gerichtstermin fällt die Strafe höher aus: 600 Euro oder Sozialstunden. Trippler leistet sie in seiner Gemeinde ab.

 

Und was wurde aus seiner Anzeige gegen die Polizisten? „Da habe ich hintenrum erfahren, dass das Verfahren eingestellt wurde“, sagt Trippler. Während der ersten Verhandlung habe er den Satz fallen lassen, er wolle keine große Sache daraus machen. Die Behörden nahmen das offenbar zum Anlass, die Ermittlungen einzustellen, ohne ihn zu informieren. Erst als seine Anwältin Akteneinsicht nimmt, erfährt Trippler davon. „Das wurde wohl unter Verschluss gehalten“, sagt seine Anwältin heute. Trippler muss Laub fegen – „für eine Tat, die ich nicht begangen habe“. Trippler ist sich sicher: „Die Polizisten haben sich abgesprochen und gelogen.“ 

 

Der Rentner ist nun vorbestraft


Die Polizeiinspektion Göttingen war gegenüber correktiv.org zu keiner Stellungnahme bereit – ebenso wenig die Staatsanwaltschaft. In Niedersachsen – Göttingen gehört dazu – gibt es zumindest eine Polizei-Beschwerdestelle. Der nun vorbestrafte Ulrich Trippler hat seinen Fall dort eingereicht. Es dauert acht Monate, bis er eine Antwort erhält.

 

Bei den Polizisten sei „kein Fehlverhalten erkennbar“ gewesen. Und: „Wir stellen gerichtliche Entscheidungen nicht infrage.“ Seit Gründung im Juli 2014 hat die Niedersächsische Beschwerdestelle binnen eines Jahres 630 Hinweise erhalten, etwa die Hälfte gegen Polizisten. Von den 210 bereits bearbeiteten Beschwerden wurden 14 als begründet eingestuft.

 

Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte hat eine Empfehlung zu den unabhängigen Ermittlungsstellen geschrieben. Er sagt: „Eine Befangenheit ist da, hat aber in den letzten Jahren abgenommen.“ Der Grund: Ermittlungen gegen Polizisten seien zunehmend zentraler angesiedelt, bei den Landeskriminalämtern etwa. Doch noch immer ermittelten Polizisten – und die haben einen bestimmten Blick auf das Geschehen. Töpfer fordert daher gemischte Teams aus Ermittlern, die nicht bei Innenbehörden, sondern der Justiz angesiedelt sind – „um das Vertrauen in den Rechtsstaat zu gewährleisten“. 

 

„Es gibt ihn, den Korpsgeist“


Die Gewerkschaften der Polizei sehen in diesem Fall keinen Handlungsbedarf. Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die Strafverfolgung von Polizisten nicht funktioniert, sagte Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft bereits im vergangenen Jahr. Er halte die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft für unabhängig.

 

Die Gewerkschaft vertritt vor allem Streifenpolizisten, der Bund Deutscher Kriminalbeamter eher höherrangige Beamte (BDK). Sein Vorsitzender André Schulz ist selbstkritischer: „Wir sind besser geworden bei Ermittlungen in den eigenen Reihen, aber es gibt ihn noch, den Korpsgeist.“ Der BDK trete ein für die unabhängigen Ermittlungsstellen, aber es gebe rechtliche Hürden.

 

Auch Schulz nimmt wahr, wie das Vertrauen in die Polizei abnimmt: Die Polizei sei materiell und personell gebeutelt, während die Bevölkerung latent Angst vor Zuwanderung und Terror habe. „Wir müssen gerade durch ein Tal der Tränen, da kommen diese Zahlen denkbar schlecht.“