Oberbürgermeister von Leipzig: Ein Fehler für 300.000 Euro

Erstveröffentlicht: 
17.07.2016
Wer eine Stadt regieren will, führt einen täglichen Kampf gegen deutschen Vorschriftswahn. Ein Interview mit dem Leipziger Oberbürgermeister

 

DIE ZEIT: Herr Jung, als vor einem Jahr die Flüchtlingszahlen stark stiegen, sagte die Kanzlerin: "Deutsche Gründlichkeit ist super, aber jetzt wird deutsche Flexibilität gebraucht." Hat das geklappt?

 

Burkhard Jung: Nur bedingt. In meinem Alltag als Oberbürgermeister erlebe ich immer noch die absurdesten Dinge. Nur ein Beispiel: Es ist ja seit einem Jahr möglich, Flüchtlingsunterkünfte auch in Gewerbegebieten zu errichten. Anders ging es einfach nicht mehr. Nun zeichnet sich ab, dass wir bestimmte Unterkünfte phasenweise nicht brauchen. Es kommen derzeit ja viel weniger Flüchtlinge.

 

ZEIT: Wie viele nimmt Leipzig im Moment noch auf?

 

Jung: Ganz wenige, vielleicht 65 pro Woche. Wir könnten in den Unterkünften also andere Menschen unterbringen: Studenten, Lehrlinge, Obdachlose. Für sie brauchten wir in Leipzig dringend Wohnraum. Nur: Das geht nicht. Denn die Ausnahmegenehmigung besteht ausschließlich für Flüchtlingsheime.

 

ZEIT: Klingt nicht sehr flexibel.

 

Jung: Es gibt viele solche Beispiele. Wir hatten ein Altenpflegeheim, ein wunderschönes Gründerzeitgebäude, das wurde bis 2015 vom städtischen Altenhilfebetrieb genutzt. Nachdem wir ein neues Pflegeheim gebaut haben, wollten wir im alten Gebäude Flüchtlinge unterbringen. Schlagartig waren Brandschutzauflagen zu erfüllen, die jenseits aller Vorstellungen liegen. Was jahrelang für alte Menschen funktioniert hatte, sollte plötzlich nicht mehr zulässig sein ...!

 

ZEIT: Also haben Sie dort keine Flüchtlinge untergebracht?

 

Jung: Doch, es ging nicht anders. Wir haben zwei Millionen Euro investiert. Leipzig ist momentan die am schnellsten wachsende Großstadt in Deutschland, und da sind die Flüchtlinge noch nicht einmal mit eingerechnet. Jedes Jahr kommen rund 15.000 Menschen dazu. Das bedeutet: Wir brauchen 20 neue Schulen bis 2025. Wir brauchen neue Kindergärten. Da werden natürlich die Bauplätze eng. Und zugleich sind die Vorschriften abenteuerlich: Es ist zum Beispiel nahezu unmöglich, einen Kindergarten an einer belebten Straße zu bauen. Allein die Lärmschutzvorschriften machen unglaubliche Zusatzinvestitionen erforderlich. Oder in Altenpflegeheimen muss gewährleistet sein, dass es in jedem Zimmer eine genau vorgeschriebene Sonneneinstrahlung gibt – das habe ich bei mir zu Hause nicht. Der Abstand zwischen Waschbecken und Toilettenschüssel muss so groß sein, dass ein breiterer elektrischer Rollstuhl gewendet werden kann. Einmal haben wir einen Fehler gemacht, da fehlten fünf Zentimeter zwischen Waschbecken und Toilettenschlüssel. Also mussten alle Waschbecken ersetzt werden. Das bedeutet Mehrkosten von 300.000 Euro. Dabei ist der vorgeschriebene Abstand so groß bemessen, dass ein elektrischer Rollstuhl zweimal wenden kann!

 

ZEIT: Das klingt frustriert.

 

Jung: Nein, ich ärgere mich nur. Meine Erfahrung nach zehn Jahren im Amt ist: Jeder, der Entbürokratisierung verspricht oder versucht, fabriziert im Ergebnis nur mehr Verwaltungsvorschriften.

 

ZEIT: Woran liegt das?

 

Jung: Daran, dass wir aufgrund von Lobbyinteressen bestimmte Standards vorschreiben, die nur dazu dienen, die Bedeutung der jeweiligen Lobbyisten zu erhöhen. Die Bauordnungsleute versuchen, ihre Standards festzulegen, Versicherungen tun ihr Übriges, staatsanwaltliche Ermittlungen gegen einzelne Mitarbeiter einer Verwaltung erzeugen ein Klima, in dem niemand mehr Verantwortung übernehmen mag.

 

ZEIT: Sie sind immerhin Oberbürgermeister von Leipzig. Können Sie nichts gegen den Regulierungswahn unternehmen?

 

Jung: Das haben wir natürlich versucht, über den Städtetag zum Beispiel. Aber die bauordnungsrechtliche Lobby ist sehr stark in Deutschland. Es ist wirklich irre, was da alles geregelt wird: Wie viel Quadratmeter braucht ein Kind im Klassenzimmer, wie viel auf dem Schulhof? Müssen alle Schulen behindertengerecht ausgebaut sein? Inklusion ist mir sehr wichtig, aber schaffen wir es, auch eine alte Gründerzeitschule exakt nach Vorschrift umzubauen? Wie steil darf die Neigung einer Rampe sein? Wir haben alles geregelt, und dieses Regelwerk wird stets weitergedreht.

 

ZEIT: Und daran hat auch die Flüchtlingskrise nichts geändert?

 

Jung: Wir hatten eine Chance, aber ich fürchte, wir haben sie vertan. Wir leben in einer solch gesättigten Gesellschaft, dass wir kaum in der Lage sind, schnell und flexibel etwas wirklich grundsätzlich infrage zu stellen. Ich glaube, das hat vor allem zwei Gründe: zum einen die Macht der Fachlobbys, zum anderen ganz schlicht Angst.

 

ZEIT: Angst wovor?

 

Jung: Angst vor dem Fremden, Angst vor der Veränderung. Ich bin der Letzte, der auf die Medien schimpft, aber die tägliche Flut von Bildern im vergangenen Jahr, ich glaube, das hat eine unglaubliche Wirkung gehabt. Man hatte das Gefühl, dass da Menschenmassen kommen, ungesteuert, und dass das an den Grenzen nicht organisiert abläuft; Stichwort Staatsversagen. Die Kanzlerin sagte zwar, "Wir schaffen das", aber ich glaube, dass die Bevölkerung vielfach nicht gespürt hat, dass es zu schaffen ist. Wenn dann gleichzeitig die Rede davon ist, dass Regeln aufgebrochen und Normen fallen gelassen werden sollen, dann klingt das womöglich nicht nach einer Erleichterung, sondern bedrohlich. Vorschriften, und seien es auch nur Verwaltungsvorschriften, können verunsicherten Menschen ein Stück Sicherheit geben. Sie haben dann etwas, das weiterhin gilt, auch wenn scheinbar alles in Bewegung geraten ist.

 

ZEIT: Würden Sie sagen, die Beharrungskräfte, die Sie da beschreiben, speisen sich aus derselben Quelle wie der Hass und die Wut, die sich gerade ausbreiten?

Jung: Ja, vielleicht ist das so.

 

ZEIT: Sie haben das selbst zu spüren bekommen. Sie wurden von Unbekannten bedroht, die "No Asyl" und "OB Jung, wir kriegen Dich" auf einen Baustellencontainer sprühten. Wer will Sie kriegen?

 

Jung: Das ist ganz klar: Das kommt aus dem Umfeld der Fremdenfeinde von Legida, also dem Leipziger Ableger von Pegida. Neben den Spruch war ja ein Galgen gemalt, das war eindeutig. Kurz davor hatten die Pegida-Leute in Dresden einen Galgen hochgehalten. Für mich ist das eine neue Erfahrung: dieser offene Hass, diese Brutalität in der Sprache, diese Verrohung.

 

ZEIT: Sie haben im Vorfeld des Kirchentages gesagt: "Ich halte die Stimmung im Land Sachsen kaum noch aus." Das war aber auch kein Beitrag zur Mäßigung, oder?

 

Jung: Also, ich muss das doch mal sagen dürfen. Ich ertrage in der Tat diesen dumpfen Hass nicht, weil ich ihn letztlich auch nicht verstehen kann. Ich kann nicht verstehen, dass wir uns daran gewöhnen, dass Flüchtlingsheime brennen. Da gibt es Hunderte von Übergriffen in Sachsen – aber haben Sie je eine Empörung erlebt? Ich finde, wir haben uns zu empören! Ich möchte auch nicht auf Bürgerbriefe antworten müssen, in denen sich Menschen beschweren, dass sie montags nicht mehr in die Innenstadt zum Einkaufen kämen, weil dort die Leute von Legida demonstrieren. Ich möchte Briefe bekommen, in denen ich gefragt werde, wo man montags hingehen kann, um gegen Legida zu demonstrieren! Da sind wir wieder bei dem Sättigungseffekt, über den wir vorhin gesprochen haben: Uns geht es so unglaublich gut, dass die fehlende Möglichkeit einzukaufen einige Menschen offensichtlich mehr belastet als der Fremdenhass in ihrer unmittelbaren Umgebung.