Dortmund: Die Schlacht am Nordmarkt (von Kurt Piehl)

"Neue Arbeiterpresse" - Die Schlacht am Nordmarkt

Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe ("Neuen Arbeiterpresse" von 15.07.1982 (?)) die Geschichte über die „Schlacht am Nordmarkt" am 16. Oktober 1932, die Kurt Piehl anlässlich eines Geschichtsausschreibens schrieb.

 

Kurt Piehl, geboren 1928 in einem Dortmunder Arbeiterviertel (Dortmund-Eving), war als Jugendlicher Mitglied der Edelweisspiraten. Anfang 1945 wurde er verhaftet, nachdem er einen Gestapo-Mann durch einen Dolchstich verletzt hatte. Obwohl die Gestapo darauf erpicht war, ihn umzubringen, entkam er den Erschießungen im Romberg-Park 1945, denen viele seiner Freunde zum Opfer fielen.

Der Widerstand der Arbeiterjugend gegen die Nazis in den Gruppen der Edelweisspiraten, die es u.a. auch in Köln gab, wird bis heute nicht als Widerstandskampf anerkannt.

Kurt Piehl arbeitete nach dem Krieg von 1949 bis 1982 als Eisenflechter, Betonbauer und Vorarbeiter in einem Dortmunder Bauunternehmen, und war dort bis zum Herbst 1982 - bis zum Konkurs der Firma - Betriebsrat. Gleichzeitig war Kurt Piehl seit 1961 Ortsvorsitzender der IG Bau-Steine-Erden in Bergkamen-Oberaden.

 

Seine Geschichte, die wir unten abdrucken, handelt in den Monaten kurz vor Hitlers Machtübernahme. In manchen Arbeitervierteln konnten die Nazis selbst nach '33 noch keinen Fuß fassen.

 


 

DAS Wetter war mittelgrau. Der Himmel bedeckt und ohne Sonne. Kein Regen. Die Temperaturen waren ebenfalls mittel - weder warm noch kalt. Was die Witterung betraf, so war es ein Herbsttag ohne Besonderheiten. Sonst war auch alles grau. „Alles", das waren die Straßen und Häuser. Die waren aber nicht mittel, sondern dunkel. Pflaster und Hausfronten waren schwarzgrau ohne Aufhellung. Außerdem war es noch Sonntag und Oktober. Es war der Vormittag des 16. Oktober 1932.

Die untere Holsteinerstraße, das Stück zwischen Born- und Brunnenstraße, war menschenleer. Fast menschenleer muss ich wohl sagen. Schließlich war ich ja noch da - ich und sonst keiner. Im ehrwürdigen Alter von annähernd fünf Jahren durfte ich schon allein auf der Straße spielen. Das war völlig ungefährlich. Der Gemüsehändler Ignaz aus „Nr. 8" verkörperte mit seinem Ponywagen den gesamten Straßenverkehr. Dann gab es noch den Eisverkäufer Benisch mit seiner Handkarre. Der wohnte bei uns in „Nr. 9"; oben im dritten Stock. Verkehrsgefährdend war der aber auch nicht. Allerdings verteilte er abends seine unverkauften Eis-reste an die Kinder in der Straße. Dabei konnte man sich Bauchschmerzen und Durchfall einhandeln.

 

Gaslaterne

 

Alleine spielen ist blöd und langweilig. Wenn sonst ein Junge auf die Straße kam, fand er garantiert schnell Gesellschaft. Heute war das nicht so. Heute kam noch nicht mal ein Mädchen. Vor unserem Haus stand die einzige Gaslaterne der Straße. Ich fasste den Mast an und lief im Kreis darum herum. Ein dummes Spiel, das nur mageres Vergnügen machte. Aber mir fiel nichts besseres ein.

In der Holsteinerstraße herrschte Sonntagsruhe; in der Nachbarschaft nicht. Auf der Bornstraße musste was los sein. Man hörte Geschrei und das Klappern von Stiefeln oder Nagelschuhen. Manchmal knallte es auch. Ich mochte es, wenn was los war. Allerdings hätte ich gern meine Freunde bei mir gehabt. Gesellschaft vertrieb die Langeweile und förderte Mut und Unternehmungslust.

Ich umrundete noch die Laterne, als sie bei „Behler" um die Ecke bogen. „Behler" war die Kneipe an der Bornstraße und „sie", das waren Männer in braunen Uniformen - SA-Leute. Die hatte ich schon gelegentlich gesehen. Einer hatte eine dunkle Uniform an - schwarz oder dunkelbau (SS oder NSKK). Sie nahmen die gesamte Straßenbreite ein und rückten zur Brunnenstraße vor. Drei oder vier von ihnen warfen Bündel von Zetteln hoch - Flugblätter. Die wirbelten durch die Luft und verteilten sich beim Herunterfallen. Das sah ganz lustig aus. Alle Männer hielten was in den Händen, was Metallisches oder Gummiknüppel. Einige hatten auch ihre Schulterriemen abgeschnallt und in die Hand genommen.

Die Straße frei!" brüllten die Eindringlinge. Und: ,,Fenster zu, sonst wird geschossen!"

Als ich das hörte, war ich natürlich schon im Haus und hastete die Treppe hinauf.

Von einem fünfjährigen Jungen konnte man keine politischen Einsichten erwarten. Trotzdem kannten auch Kinder im Vorschulalter schon Begriffe wie „Stahlhelm", „Nazis". „Eiserne Front" usw.. Dazu kamen Namen wie „Hindenburg", „Hitler", „Papen" und „Schleicher". Die dazugehörenden Wertvorstellungen lernten wir von den „großen Jungs". Das waren die Dreizehn- bis Vierzehnjährigen aus unserer Straße. Deren Weisheit konnte nicht angezweifelt werden. Ihr hohes Lebensalter verbürgte die Richtigkeit ihrer Ansichten.

 

Nazis

 

Von diesen Jungen lernte ich. „Hindenburg und Hitler sind Schweinehunde". „Nazis fressen kleine Kinder", „Schupos schlagen Kinder und Erwachsene mit Gummiknüppeln".

Diese drei Thesen bildeten die Summe meiner politischen Erkenntnisse. Und die waren gar nicht so abwegig. Das wurde in der Folgezeit zwölf Jahre lang permanent bewiesen. Meine unverzügliche Flucht war also verständlich und logisch.

Ich rannte in die Wohnung und schrie atemlos: „Omma! Omma! Versteck mich schnell! Draußen sind Nazis."

Meine Großmutter war schwerhörig und hatte den Lärm auf der Straße noch nicht mitgekriegt. Mich konnte sie aber nicht überhören. Und meine Angst war unverkennbar. „Wenn ich bloß erst tot wär", jammerte sie. aufgeregt. So begannen alle ihre Sätze, gleichgültig, wovon sie sprach. „Dass ich sowas noch erleben muss. Die Nazjes kommen und dat Jungelke hat Angst. Und Minnken is' auch nich' da."

Nazjes" sagte sie zu den Nazis, und mit dem „Jungelke" meinte sie mich. „Minnken" hieß Minna und war meine Mutter. Die war zu einer Tagung, irgendwo im Bergischen Land. Wir bewohnten eine Dreizimmerwohnung. Zwei Zimmer lagen nach hinten mit den Fenstern zum Hof. Da wären wir relativ sicher gewesen. Allerdings hatten wir nicht gemerkt, was auf der Straße vorging In akuter Gefahr ist Ungewissheit schlimmer als sichtbare Bedrohung. Folglich stellten wir uns an das Fenster zur Straße.

Draußen war der Lärm zur Kampfgetümmel geworden. Da Schreien und Stiefelgeklappe wurde durch splitternde Glas ergänzt. Bierflaschen waren beliebte Wurfgeschosse. Wurde der Aufprall von einem Knall begleitet, hatten die Flaschen Karbid mit Wasser enthalten. Es flogen auch Steine und sandgefüllte Blechdosen durch die Luft. Dann krachten die ersten Schüsse.

Meine Großmutter stand neben dem Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Ich reichte nur bis zur Fensterbank und konnte nichts sehen Als ich mich reckte, drückte mich Großmutter in die Deckung unter dem Fenster Ich entwischte jedoch. Aus der Mitte des Zimmers sah ich zum Fenster Da erblickte ich den alten Opa Vogt. Schräg gegenüber von uns, etwas nach rechts, stand das Haus „Nr. 10". Dort wohnte ganz oben im 6 Stock ein altes Ehepaar - die Vogt. Der Opa stand hoch in den Siebzigern und war schon ziemlich klapprig. Zwei bis dreimal jährlich lag er „im Sterben". Bis jetzt hatte er aber immer überlebt. Er war ein großer hagerer Mann, der nur aus faltigen Haut bestand. Oma Vogt war ganz anders. Sie war rundlich, resolut und ein Dutzend Jahre jünger als ihr Mann. Außerdem war sie gesund und kräftig.

 

Heute war Opa jedoch in Hochform. Er hatte das Fenster aufgerissen und empfing die Nazis mit Blumen. Sogar die Töpfe waren noch dran. „Ihr Hitlerschweine", brüllte er wütend und schleuderte ein „Fleißiges Lieschen" auf die Straße. Der irdene Topf zerbarst krachend auf dem Pflaster. Scherben und Blumenerde bespritzten die Eindringlinge. „Naziverbrecher, Arbeiterfeinde", heulte er dann mit überkippender Stimme. Der ersten Blume folgte eine blühende Geranie.

Au, verflucht!" schrie ein SA-Mann entsetzt. „Der alte Trottel ist wahnsinnig geworden". Er humpelte zur Seite. Die Geranie hatte ihn am Knie gestreift. Ein anderer Nazi rieb sich die Augen. Er hatte, eine Ladung feuchter Blumenerde ins Gesicht bekommen.

Aus den anderen Häusern wurden ebenfalls entbehrliche Gegenstände auf die Straße geworfen. An unserem Fenster flog eine volle Puddingschüssel aus Glas vorbei. Als sie unten knallend zersplitterte, folgten halbgare Kartoffeln mit kochendem Wasser. Irgendwo über uns wurde das Mittagessen durch Klassenkampf ersetzt.

 

Bornstraße

 

Räumt auf mit dem roten Mordgesindel!" hetzte jemand auf der Straße. Die Stimme kam von links, von der Bornstraße her. Da hatten die Nazis wohl ihre Etappe. Den Kämpfern in der vordersten Linie war die Lust zum Schreien inzwischen vergangen. Sie hüpften wie besessen herum, um den gefährlichen und unappetitlichen Wurfgeschossen zu entgehen. Einige Leute hatten einfach ihre Nachtgeschirre durch die Fenster entleert.

Mittlerweile hatte auch Opa Vogt den 8. und letzten Blumentopf heruntergeschleudert . „Jetzt komm ich selbst und reiß euch den Arsch auf, drohte er. Ich sah den alten Mann plötzlich auf der Fensterbank knien. Er wollte sich wie ein Kamikazeflieger auf die Feinde stürzen. Meine Großmutter riss das Fenster auf und schrie: „Zurück, verrückter Kerl!" Dann hielt sie sich die Augen zu, um das Unglück nicht mitansehen zu müssen. Oma Vogt hatte aber schon eingegriffen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen und zog ihn energisch zurück. Solcher Gewalt war der alte Mann nicht mehr gewachsen. Murrend stellte er die Feindseligkeiten ein.

Wenn der olle Knopp Nazis sieht, wird er jedesmal verrückt". rief Oma Vogt erklärend über die Straße. „Da kann man aber nix bei machen. Gleich is' er wieder krank und ich hab die Last mit ihm". Dann fügte sie bedauernd hinzu: „Und meine Blumen sind auch alle weg". Die SA-Leute auf der Straße wurden von ihr gar nicht beachtet. Die waren Ungeziefer für sie - lästig und ekelhaft, aber nicht sonderlich interessant.

Opa Vogt war ein alter, kranker Mann. Seine Zukunft lag längst hinter ihm. Eigentlich lebte er nur noch, weil er das Sterben vergessen hatte. Aber heute war er ein Held, ein furchtloser Kämpfer, der sich ohne Zögern dem Feind entgegengestellt hatte. Die Niederlage der Nazis war auch sein Verdienst. Allerdings - noch war es nicht so weit.

Der Kampf auf der Straße war in eine neue Phase getreten. Er war härter geworden. Vereinzelt flogen noch Steine und Flaschen. Geschrien wurde gar nicht mehr, nur noch geschossen. Schreie verraten dem Gegner die eigene Position. Der Naziangriff war in der unteren Holsteinerstraße zum Stillstand gekommen. Die Angreifer suchten in den Hauseingängen Deckung. Dabei mussten sie damit rechnen, aus den Häusern der jeweils anderen Straßenseite" beworfen oder beschossen zu werden. Das war keine Straßenkeilerei mehr, das war Krieg. Das war die schrecklichste Form des Krieges - der Straßen- und Häuserkampf. Und die Nazis saßen in der Falle.

Nach dem anfänglichen Überraschungserfolg der SA hatten sich die „Jungs aus dem Norden" formiert. Ihre Verteidigungslinie war der Bahndamm an der Gronaustraße. Aus dieser günstigen Position konnten sie alle Angriffe zurückschlagen. Schusswaffen gab es auf beiden Seiten; nicht nur Faustfeuerwaffen, auch Karabiner - Mitbringsel aus dem (1.) Weltkrieg. SA-Leute, die sich zu weit vorgewagt hatten, saßen fest. Sobald sie angreifen oder fliehen wollten, gerieten sie in die Schusslinie.

Ob und wie weit sich auch die Schupo (Schutzpolizei) an dem Kampf beteiligte, ließ sich aus meiner eigenen strategischen Position" nicht feststellen. Ich saß nämlich mit meiner Großmutter unter der Fensterbrüstung - in voller Deckung. Dort hatten wir Angst und sonst gar nichts.

 

Schießerei

 

Die Schießerei dauerte endlos. Dabei ist es mir nicht möglich, den Begriff der Endlosigkeit in Stunden oder anderen Zeiteinheiten auszudrücken. Ich bekam eine Vorahnung von der Ewigkeit.

Und dann heulte die Sirene eines Krankenwagens. Das Schießen hörte plötzlich auf. „Die Jungs aus dem Norden", diese Truppe aus Angehörigen verschiedener Parteien und Parteilosen, aus Christen und Atheisten, die hatten das Feuer eingestellt. Sie ermöglichten die Bergung von verletzten Passanten, die zwischen die Fronten geraten waren. Die Nazis nutzten die Situation für ihren Rückzug.

Wir hatten es überstanden - so glaubte ich jedenfalls. Mein Freund Walter M. kam in unsere Wohnung gerannt. „Bei Komossa anne Ecke ham se 'n alten Mann erschossen", berichtete er aufgeregt. „Und die Nazis ham 'n Arsch voll, gekriegt und sind stiftengegang'n. Komm mit! Wir woll'n da ma' gucken!"

Meine Großmutter ließ mich trotz einiger Bedenken mit. Walter wohnte direkt über uns und war 2 Jahre älter als ich. Weil er das hatte, was hier als „Großschnauze" bezeichnet wurde, war er eine Art Anführer von uns. Die „großen Jungs" nannten ihn „Kohtenhäuptling" (Kohten - kleine Kinder) oder „Revolverschnauze ohne Waffenschein". Sein vorlautes Mundwerk verschaffte ihm zwölf Jahre später ein Todesurteil wegen Wehrkraftzersetzung. Er hat trotzdem überlebt.

Im letzten Kriegswinter war Walter als Marinesoldat in Kiel stationiert. Angesichts des „nahen Endsiegs" stellte er im Kameradenkreis die Behauptung auf, das Deutsche Reich würde nach dem Krieg nicht von ausländischen Alliierten regiert werden, sondern von deutschen Kommunisten oder Demokraten. Er wurde denunziert und zum Tode verurteilt. Sein Verteidiger, ein junger Leutnant, beantragte Vollstreckungsaufschub. Er begründete seinen Antrag folgendermaßen: Kein Mensch, der seine 5 Sinne beisammen habe, könne ernsthaft am Endsieg zweifeln. Jeder wisse doch, dass der baldige Einsatz der neuen Wunderwaffen den Krieg zugunsten Großdeutschlands entscheiden werde. Wer anderer Meinung sei, müsse als unzurechnungsfähig angesehen werden und sei deshalb strafrechtlich nicht verantwortlich.

Wollten sich die hochrangigen Offiziere des Feldgerichts nicht selbst der Wehrkraftzersetzung schuldig machen, mussten sie dem Antrag stattgeben. Nach der Untersuchung durch einen wohlwollenden Psychiater überlebte Walter in einer Heil und Pflegeanstalt. Sein ausgefertigtes Todesurteil, einen simplen Vordruck in Postkartengröße, trug er später stets bei sich.

Etwa zur gleichen Zeit erwarb ich mir auch die Anwartschaft auf das Fallbeil. Ich hatte einen kleinen Dolch in einem großen Gestapo-Beamten versteckt. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Blutlache

 

An der Nordostecke der Kreuzung Holsteiner- und Brunnenstraße lag (bis 1982) die „Rind- und Schweinemetzgerei Heinrich Komossa". Der Eingang war genau auf der Ecke. Einige Differenzstufen führten zum Niveau des Ladens hinauf. Davor war eine Blutlache - fast kreisrund mit ausgezacktem Rand. Der Durchmesser betrug etwa 80 Zentimeter.

Walter und ich betrachteten das Blut mit angst- und lustvollem Gruseln. Aus dem Haus von „Sigge" kam ein Mädchen gelaufen und gesellte sich zu uns. Sigge war das Lebensmittelgeschäft schräg gegenüber. Das Mädchen hatte schwarze Zöpfe und war älter als wir - 8 oder 9 Jahre alt. Ich kannte es vom Ansehen, wusste aber nicht, wie es hieß.

Das war'n alter Mann, wo ausse Kirche gekommen is'," berichtete es. „Da ham die Nazis ne dann totgeschossen - oder die Kommunisten. So genau weiß ich das nich'"

Das ham die Nazis gemacht," behauptete Walter, „Die schlitzen die Kinders auch ihre Bäuche auf und fressen se darin".

Roh?" wollte ich wissen. „Oder kochen se die erst?" Dass Nazis Kinder fressen, wusste hier jeder. Mich interessierten aber die Einzelheiten.

Du bis' doof, sagte das Mädchen zu mir.

Walter zog an ihrem rechten Zopf. „Wenn de zu mein' Freund doof sagst, kannste was erleb'n," drohte er.

 

Pikko"

 

Die is' selber doof, sagte ich und wollte am anderen Zopf zerren.

Das Mädchen wurde böse, „Wenn de frech wirst, kriegste 'n paar gescheuert, Pikko", (Pikko - kleiner Junge) schimpfte es. „Und du kannst dir auch 'n paar fangen". Das galt Walter.

Wir hätten uns noch herrlich streiten können, aber plötzlich knallte es wieder. Zuerst ein einzelner Schuss; dann drei oder vier.

Das geht wieder los" rief das Mädchen. „Ich hau lieber ab". Es rannte quer über die Kreuzung.

Die is' feige", meinte Walter und lauschte den Schüssen, Ich hatte auch Angst, aber mein Freund beruhigte mich. „Das sind Rote", behauptete er. „Die jagen nur die letzten Nazis weg."

Das Schießen verstärkte sich und kam näher.

Vielleicht sind das aber Schupos", gab ich zu bedenken. Ob Nazis oder Schupos - beide zoologischen Gattungen wurden hier nicht den freudigen Ereignissen zugerechnet.

Abhau'n!" kommandierte Walter und rannte los. Ich folgte mit Abstand und kürzeren Beinen.

Als wir unser Haus erreichten, wollte Frau R. gerade die Haustür abschließen. „Los, rein mit euch!" befahl sie. „Ihr verdammten Blagen (Kinder) seid wohl verrückt gewor'n. Sowas. An so'n Tag draußen rumzustrolchen,"

Während dieser letzten Kampfphase waren alle Haustüren der unteren Holsteinerstraße verschlossen. Die folgende Schießerei war ebenso heftig und endlos wie die vorherige - unsere Angst auch. Dann verzogen sich die Nazis. Die Eroberung des Dortmunder Nordens hatte nicht stattgefunden.