Kennen Sie Roderich Kiesewetter?

Erstveröffentlicht: 
09.02.2016

Sollten Sie aber. Der christdemokratische Bundestagsabgeordnete ist ein wichtiger transatlantischer Scharniernetzwerker des militär-industriellen Komplexes


Der Besuch des bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer in Moskau zu Gesprächen mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin brachte Spitzenpolitiker der Schwesterpartei CDU rhetorisch zur Weißglut. Deren Bundestagsabgeordneter Roderich Kiesewetter echauffierte sich zunächst in der Zeitung Die Welt: "Seehofer hat sich in der Flüchtlingsdebatte eindeutig gegen die Bundeskanzlerin positioniert - ich hoffe, dass er die Reise unterlässt."

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Kiesewetter nutzte ein Interview beim Deutschlandfunk, um noch einmal nachzulegen. Seehofer lasse sich faktisch in Putins Strategie einbinden. Die bestünde darin, die Rechtsextremen und Rechtspopulisten in Deutschland und Europa in seine Propaganda gegen den Westen einzuspannen. Diese seien Putins "Fünfte Kolonne", die er über ein Auslandsnetz finanziere und mit falschen Informationen versorgen würde.

Harte Anschuldigungen gegen den demokratisch gewählten Präsidenten eines Nachbarstaates. Da Kiesewetter Anfragen zu Belegen und Details seiner Behauptungen unbeantwortet ließ, kann nur angenommen werden, dass der CDU-Politiker entweder über Geheimdienstinformationen verfügt, die er der Öffentlichkeit vorenthält, oder dass seine Anschuldigungen gegen Putin der Grundlagen entbehren, nicht belegt werden können. Bleibt also die Frage: Warum polarisiert Roderich Kiesewetter? Will sich hier ein bislang eher unbeachteter Hinterbänkler des Bundestages durch rhetorische Überzeichnung ins Rampenlicht bringen?

Der Fall liegt allerdings bei Kiesewetter genau anders herum. Der Mann ist weit einflussreicher, als die Öffentlichkeit es bis jetzt wahrgenommen hat. Und Kiesewetter hat ein Interesse daran, dass viele seiner Vernetzungen eher unerwähnt bleiben. Seine Karriere begonnen hat der heutige Bundestagsabgeordnete als Berufssoldat. Dabei studierte er in den USA Wirtschaftswissenschaften. In der Bundeswehr brachte er es zum Generalstabsoffizier, und er arbeitete in den NATO-Hauptquartieren in Brüssel und Mons. Seine aktive Laufbahn als Soldat schloss er ab im Multinationalen Kommando Operative Führung in Ulm. Dabei handelt es sich um eine Basis, von der aus Soldaten in Krisenregionen geschickt werden.

Auch nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn arbeitet Kiesewetter weiterhin für den militärischen Bereich. Zum Beispiel als Präsident des Reservistenverbandes. Dieser Verband sorgt dafür, dass ehemalige Bundeswehrsoldaten organisatorisch und mental der Truppe verbunden bleiben. Der Steuerzahler finanziert diese Organisation mit jährlich 16 Millionen Euro. Der Reservistenverband mit seinen 115.000 Mitgliedern in über 2.400 Reservekameradschaften vor Ort sorgt in der Gesellschaft für ein positives Meinungsklima gegenüber den Streitkräften.

Weniger öffentlich kommt die Bundesakademie für Sicherheit daher. Die BAKS - wie sie im Insiderjargon heißt - ist am Rand von Berlin beheimatet und kann als diskreter Think Tank bezeichnet werden, in dem sich Vertreter der Rüstungsindustrie mit Medienleuten, Theologen, Wissenschaftlern und Politikern in lockerer Runde austauschen können. Kiesewetter sitzt in der BAKS im Beirat.

Die BAKS ist wiederum eine Schöpfung der Bundesregierung, und zwar, genauer gesagt, des Bundessicherheitsrates. In diesem wenig bekannten Gremium versammeln sich bei Bedarf die Bundeskanzlerin, ihr Vizekanzler, der Chef des Kanzleramtes, die Minister der Verteidigung, der Finanzen, des Auswärtigen, des Inneren, der Justiz und der Wirtschaft sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit. In diesem Geheimkabinett werden Fragen verhandelt, bei denen man die breite Öffentlichkeit lieber nicht mit einbezieht. Eine Art moralische Schmuddelecke.

Im Gegensatz zum Nationalen Sicherheitsrat der US-Regierung handelt es sich aber nicht um eine Geheimregierung. Es fehlen in Deutschland die Chefs der Geheimdienste, und die Themenpalette umfasst, soweit man das als einfacher Bürger erkennen kann, in erster Linie pikante Waffenexporte in Länder, die man als demokratischer Staat eigentlich nicht beliefern dürfte. Im Bundessicherheitsrat wurden z.B. Waffenexporte nach Israel, der Türkei und Saudi-Arabien beschlossen.1

Der wenig bekannte Kiesewetter sitzt also im Zentrum der Macht. Der Bundeswehr-Veteran wurde auch Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss. 2 Von Anfang an herrschte Klarheit darüber, warum er diese Funktion einnahm: "Ich bin überzeugter Transatlantiker!", soll Kiesewetter gesagt haben. Wozu die ganze Empfindlichkeit darüber, dass der amerikanische Ausspähdienst NSA die Bevölkerung eines souveränen, noch dazu mit den USA verbündeten Landes flächendeckend ausspioniert: Das Leben sei nun einmal kein Ponyhof. Und die nicht eben USA-kritische Zeitung Die Welt schreibt über Kiesewetter als NSA-Ausschussvorsitzenden:

 

Zwischenergebnisse fasste er schon mal bündig zusammen: "Aufklärung läuft doch prima, bisher nicht ein einziger Hinweis auf anlasslose Massenüberwachung." Kiesewetter - eigentlich in einer Ermittlerrolle - verteidigte nicht nur die NSA, sondern vor allem deren deutsche Kollegen vom BND.

Die Welt


Peinlich nur, dass Kiesewetter Anfang des Jahres 2015 vom Vorsitz des NSA-Ausschusses zurücktrat. Der wirkliche Grund dieses Rückzugs bleibt rätselhaft. Angeblich soll er erfahren haben, dass zwei seiner Vorstandskameraden im Reservistenverband Informanten des BND waren. Darüber sei Kiesewetter derart beleidigt gewesen, dass er den Ausschussvorsitz niederlegte. Später wurde noch draufgesattelt, einer der beiden BND-Agenten sei zusätzlich noch beim russischen Geheimdienst tätig gewesen.

Schattennetzwerke

Doch Kiesewetter arbeitet auch auf europäischer Bühne. Er bewegt sich hier in jenem demokratisch nicht kontrollierten, geschweige denn vom Volk legitimierten rechtsfreien Raum der Governance.3 Governance bedeutet, dass sich parallel zu den traditionellen Institutionen der Parlamente und Regierungen eine schattenhafte Struktur von mächtigen und einflussreichen Kreisen bildet. In diesen Kreisen wird in informeller Runde der Rahmen zukünftiger politischer Entscheidungen ausgehandelt und zur Umsetzung an die Instanzen der traditionellen Government-Strukturen: Parlamente, Regierungen, Bürokratien und Parteien, weitergereicht. Ein solches informelles Gravitationszentrum von Rüstungsindustrie, Sicherheitsindustrie, industrienahen Stiftungen und Politikern stellt der European Security Round Table dar.

Der ESRT wird finanziert von Rüstungskonzernen wie z.B. Lockheed Martin, Dassault oder Symantec (Cybersicherheit). Zur allgemeinen Überraschung findet man hier als Förderer des Runden Tisches aber auch das Bundesland Hessen. Die Bürger dieses Bundeslandes finanzieren damit eine Institution, von deren Existenz sie in der Regel nichts wissen. Weiterhin mischen in diesem europaweit agierenden Gremium Bertelsmann Stiftung, Konrad Adenauer-Stiftung oder der exklusive Parlamentarierklub Kangaroo mit. Gemeinsam ist den Mitstreitern um den Runden Tisch für Sicherheit der Gedanke, eine europäisch zusammengefasste Rüstungsindustrie auf den Weg zu bringen.

Man geht davon aus, dass die Rüstungswirtschaft in Europa in etwa ein Drittel der Größe des US-amerikanischen Pendants ausmacht, jedoch in punkto Effizienz weit hinterher hinkt. Die europäische Rüstungsindustrie muss zukünftig stärker synchronisiert werden. Soll heißen: Rüstungsproduktion muss europaweit genormt und zertifiziert werden; daraus folgt langfristig auch eine zunehmende organisatorische Zusammenfassung der Rüstungsproduktion unter einem gemeinsamen Dach. Man könnte auch weniger dezent auf den Punkt bringen: Die Kapitalkonzentration wird politisch unterstützt. Die deutschen Vertreter sind in diesen Schatten-Netzwerken stark überrepräsentiert. Es könnten sich im Bereich der so genannten Sicherheitsindustrie durch solche europaweite Synchronisation auf die Dauer die deutschen Konzerne durchsetzen.

Es wird sicher nicht überraschen, Roderich Kiesewetter als Mitglied im Advisory Board des europäischen Runden Tisches für Sicherheit zu finden. Nicht nur das: Kiesewetter ist zugleich seit 2007 regelmäßiger Gast bei den Tagungen der Münchner Sicherheitskonferenz. Dort traf er sich 2014 mit dem ukrainischen Oppositionspolitiker und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko. Dass Kiesewetter daraufhin Verständnis für Waffenlieferungen an die Ukraine geäußert hat, rundet das Bild ab.

Vor diesem Hintergrund sind so manche kernige Aussagen des Ex-NATO-Soldaten besser zu verstehen. Zum Beispiel, wenn Kiesewetter im September letzten Jahres dem Berliner Tagesspiegel gegenüber in der Syrienfrage verkündet: "Politische Wirkung werden wir nur entfalten können, wenn wir die Sprache der Region sprechen, also auch militärische Mittel ergänzend zu diplomatischen Initiativen einsetzen." Konkreter: "Wir sollten auch in Erwägung ziehen, schwerere Waffen wie etwa Schützenpanzer zum Kampf gegen den IS zu liefern."

Schließlich wartete er noch mit dem Vorschlag auf, die Bundesrepublik sollte sich am Syrienkrieg mit eigenen Tornado-RECCE-Flugzeugen beteiligen. Doch die Bundesregierung wollte dem Druck einiger Bundestagsabgeordneter unter Führung Kiesewetters nicht so recht nachgeben. Das änderte sich schlagartig nach den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015. Mochten auch erfahrene ehemalige Bundeswehr-Generäle wie Harald Kujat oder Ex-Oberstleutnant Ulrich Scholz den Tornado-Einsatz als militärstrategischen Nonsens verurteilen: Deutschland war ab nun im Syrienkonflikt gefangen. Der Gedanke, Deutschland in den Syrienkrieg einzuwickeln, war auf der privaten Münchner Sicherheitskonferenz im Frühjahr 2015 ausgearbeitet worden.

In einem solchen Kontext wirken so manche Aussagen von Roderich Kiesewetter im deutschen Bundestag nicht in erster Linie abstrus, sondern vielmehr offen bedrohlich: Europa müsse gegenüber Libyen "Härte zeigen". Der Iran sei in der Lage, mit seinen Raketen München und Stuttgart zu zerstören. Deswegen müsse die NATO an der Grenze Russlands vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer ihren Raketenschirm errichten und sich damit gegenüber Russland "etwas mehr Zähne" zulegen - womit Kiesewetter implizit zugibt, dass der Raketenschirm nicht gegen den Iran, sondern gegen Russland gerichtet ist.

Hier schließt sich der Kreis: Wenn der bayrische Ministerpräsident jetzt mit Putin ganz normal redet, anstatt ihn zu ignorieren und zu ächten, durchkreuzt er die Konzeption Kiesewetters und seiner Mitstreiter. Mit Putin zu reden, verbietet sich nach Kiesewetters Logik schon deswegen, weil Putin angeblich bereits jetzt Krieg gegen die NATO-Staaten führt, und zwar an der Propagandafront, mit seiner behaupteten finanziellen Unterstützung der deutschen Rechten.

Die Tage der Entspannung mit Moskau sind nun vorbei. Das entnehmen wir der offiziellen Zeitung der Streitkräfte der USA, den Stars and Stripes. Das Verteidigungsministerium der US-Regierung, das Pentagon, hat jetzt gerade verkündet, dass es eine Vervierfachung der Militärausgaben für den Einsatz der US-Truppen in Europa für das Finanzjahr 2017 fordert (Hauptfeind Russland: Pentagon will Präsenz in Europa stärken). Sind aktuell für das laufende Jahr 2016 Europa-Ausgaben des US-Militärs in Höhe von 780 Millionen Dollar angesetzt, so soll der amerikanische Steuerzahler für das Fiskaljahr 2017 bereits 3.4 Milliarden Dollar aufwenden. 3.000 bis 5.000 zusätzliche US-Soldaten sollen an die Grenze Russlands verlegt werden. Sollte der nächste US-Präsident nicht Bernie Sanders heißen, dann wird diese Anforderung des Pentagon hundertprozentig umgesetzt.

Ist es da ein Zufall, dass Verteidigungsministerin Ursula von Leyen gerade jetzt einen Super-Etat von 130 Milliarden Euro, gestreckt auf die nächsten fünfzehn Jahre, für die Erneuerung der Bundeswehr gefordert hat? Süffisant merkt die Sendung "Streitkräfte und Strategien" des NDR an, dass die Verteidigungsministerin ihre Forderung einen Tag nach der Vorlage des sehr kritisch ausgefallenen Jahresberichts des Wehrbeauftragten des Bundestages, Hans-Peter Bartels, vorgebracht hatte: "Es wirkte wie eine konzertierte Aktion." Roderich Kiesewetter ist ein Meister der konzertierten Aktion.