AKW Fessenheim: Atom-Unfall offenbar vertuscht

Erstveröffentlicht: 
03.03.2016

Im französischen AKW Fessenheim gab es 2014 eine Überschwemmung. Die Betreiberfirma stellte das Ereignis als harmlos dar. Doch nach Recherchen von WDR und "Süddeutscher Zeitung" könnte es einer der dramatischsten AKW-Unfälle in Westeuropa gewesen sein.

 

Von Jürgen Döschner, WDR

 

Am 9. April 2014 um 17 Uhr gehen gleich mehrere Alarmsignale auf der Leitwarte des Reaktorblocks 1 in Fessenheim ein: Wassereinbruch auf mehreren Ebenen, Defekte an elektrischen Isolierungen, Ausfall eines der beiden Systeme zur Reaktorschnellabschaltung. Der Versuch, den Reaktor ordnungsgemäß herunterzufahren scheitert - die Steuerstäbe lassen sich nicht bewegen.

 

"Es betrifft hier den Reaktorkern, also die Seele, die Zentrale der Anlage", sagt Manfred Mertins, der seit Jahrzehnten als Sachverständiger für Reaktorsicherheit tätig ist. Er war lange Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit, GRS, die im Auftrag der Bundesregierung die Sicherheit von Atomkraftwerken beurteilt. "Wenn ich hier unterstelle, dass ein System schon ausgefallen war, muss ich sagen: Damit war die Abschaltung nicht mehr in dem vorgesehenen Umfang sichergestellt", so Mertins. "Also insofern ein sehr ernstes Ereignis."

 

Temperatur aus dem Ruder gelaufen

 

Die französische Atomaufsicht schrieb wenige Tage nach dem Unfall an die Leitung des Kraftwerks einen Brief. Der Inhalt ist auch für Mertens erschreckend. "Es gibt eine Information, dass für etwa drei Minuten die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen ist. Das ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass man keine Informationen mehr über die Regelung im Kern hatte." Die Mannschaft habe in diesem Moment den Reaktor quasi blind gefahren, sagt Mertins.

 

Eine dramatische Situation, so sah es damals wohl auch der Kraftwerksbetreiber. Eiligst richtete er einen Krisenstab ein. Der entschied sich für eine ungewöhnliche Maßnahme: Um den Reaktor herunterzufahren, wird Bor in den Reaktorbehälter gegeben. Man zieht sozusagen die Notbremse, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein in Westeuropa einmaliger Vorgang, sagt Mertins.

 

"Es hätte kein Wasser eindringen dürfen"

 

Aber nicht nur die Folgen, auch die Ursachen des Unfalls erschrecken den Experten. Denn offenbar sind die diversen Steuersysteme ausgefallen, weil Wasser durch die Ummantelung von Elektrokabeln in verschiedene Räume und in sicherheitsrelevante Schaltkästen gelangen konnte. "Es hätte kein Wasser eindringen dürfen, insbesondere in die Leittechnikschränke des Reaktorschutzes. Dass ein Strang komplett ausgefallen ist, das geht gar nicht!"

 

Sowohl die französische Atomaufsichtsbehörde ASN als auch die Betreiberfirma EDF haben seinerzeit die ganze Dramatik der Ereignisse vom 9. April 2014 der Öffentlichkeit vorenthalten. Der Ausfall der Steuerstäbe und die so genannte "Notborierung" wurden nicht einmal der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien mitgeteilt.

 

"Dieser Schrottreaktor gehört abgeschaltet"

 

Für die Vorsitzende der Grünen, Simone Peter ist das AKW Fessenheim nicht nur wegen dieses Vorfalls eine tickende Zeitbombe. "Ein Betreiber, der wie ein Hasardeur agiert, eine Aufsicht, die beide Augen zudrückt, und ein AKW, das aus dem letzten Loch pfeift. Das ist nicht hinnehmbar", sagt sie. "Das ist eine akute Gefährdung für die Bevölkerung auch in Deutschland. Dieser Schrottreaktor gehört abgeschaltet."

 

Die Grünen-Vorsitzende fordert wegen der Häufung von Zwischenfällen in grenznahen Atomkraftwerken nun eine Neubewertung der Atomkraft in Europa und schlägt einen europäischen Atomgipfel vor.