Verzweiflung treibt Kurden auf die Straße

Erstveröffentlicht: 
16.01.2016

Mitglieder der Kurdischen Gemeinschaft Heilbronn demonstrieren diesen Samstag ab 14 Uhr wieder

 

Halef Tiken ist ganz aufgelöst, wenn er aus Kurdistan erzählt. Im Sommer war er in der Heimat seiner Eltern zu Besuch, in der Nähe der türkischen Stadt Cizre, ganz im Südosten des Landes.

 

Tiken ist 31 Jahre alt und lebt seit seinem siebten Lebensjahr in Heilbronn. Als er zuletzt in Kurdistan war, dachte er, er sei in einer anderen Welt. "Plötzlich habe ich mich gefühlt wie mitten im Kriegsgebiet."

 

Tiken war ab Ende Juli in Cizre. Damals verhängte die türkische Regierung erste Ausgangssperren, berichtet er. "Ich habe Schüsse gehört. Ich dachte, das ist in ein paar Stunden vorbei." Doch die Ausgangssperre dauerte zehn Tage lang an, sagt er. Seit seiner Rückkehr telefoniert Tiken immer wieder mit Verwandten in Cizre. "Und seitdem wurde es nur schlimmer", sagt er.

 

Krieg


In den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei herrscht seit Monaten Ausnahmezustand. Hunderte Kurden sind in Auseinandersetzungen gestorben − aus Sicht der Kurden wurden sie ermordet und hingerichtet. Das sehen viele so, die sich vergangenen Mittwoch in den Räumen der Kurdischen Gemeinschaft Heilbronn treffen. Die türkische Regierung führe inzwischen Krieg gegen die Menschen in Kurdistan, sagen sie. Offizielles Ziel der Angriffe ist die verbotene Kurdenpartei PKK. "Aber das sind lediglich junge Leute, auch Frauen und Kinder", sagt Halef Tiken. "Im Moment kämpft nicht die PKK, im Moment kämpft die Zivilbevölkerung." Er ist überzeugt: Würden die Menschen sich nicht verteidigen, würde es noch viel mehr Tote geben.

 

Bei der Kurdischen Gemeinschaft in Heilbronn ist am Mittwoch viel Betrieb. In einem Raum gibt es Musikunterricht. Jugendliche lernen, die Saz zu spielen, eine Art Laute. Neben der Küchenzeile lesen Männer in ihrer Zeitung. An der Wand steht auf einer Tafel die Ankündigung für die nächste Demonstration: Diesen Samstag ab 14 Uhr gehen die Kurden wieder auf die Straße, wie zuletzt so häufig. Zwölf Demos hat die Heilbronner Polizei im vergangenen Jahr erfasst.

 

Die Menschen sind besorgt, manche verzweifelt. Deshalb demonstrieren sie so häufig. "Unser Aufruf an Europa ist, dass sie sofort einwirken müssen auf den Konflikt", sagt Orhan Ates, Vorsitzender des Vereins. "Wir wollen nicht jeden Tag Demonstrationen machen. Aber wir wollen erhört werden", sagt auch Halef Tiken. Mohammed (24) möchte seinen Nachnamen nicht nennen. Er ist sicher, dass die Jugendlichen auf die Straße gehen, weil Medien nicht die Wahrheit berichten. Aus seiner Sicht ist die Berichterstattung über Kurdistan zu wenig, verkürzt und vom türkischen Staat abhängig. "Die Menschen werden so lange demonstrieren, wie nur so wenig berichtet wird", sagt er.

 

Verhandlungen


Eigentlich wolle man nur auf das Schicksal von Verwandten und Bekannten aufmerksam machen. Fast jeder kann Geschichten aus dem Krisengebiet erzählen. Auch Sükran Tantik. Sie berichtet von einer Verwandten in Cizre. Die 34-Jährige hat seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihr. Doch zuletzt seien die Menschen in Kurdistan verzweifelt, sagt sie. "Die Leute haben Angst, sie schlafen nicht, es fehlt alles von Babynahrung bis zum Wasser." Ein älterer Mann erzählt von seiner 95-jährigen Mutter. Er macht sich Sorgen, weil die alte Frau meistens weder Strom, Wasser noch ausreichend Nahrung hat. "Die Politiker sollen wieder an den Verhandlungstisch", fordert er. Solange das nicht passiert, wollen die Kurden demonstrieren. "Ich kann zu Hause nicht ruhig sitzen. Es tut so weh, dass fast niemand etwas vom Konflikt wissen will", sagt Sükran Tantik. "Aber wir haben Hoffnung, dass noch etwas passiert", sagt eine andere Frau.