Freitag fällt ein Tabu. Dann erscheint offiziell ein Buch, das schon längst im Internet oder in Auslands-Drucken zu haben ist: Hitlers „Mein Kampf“ als kommentierte, kritische Edition. 2000 Seiten dick (mehr als doppelt so viel wie das Original) und satte 59 Euro teuer. Ein Bestseller wird es wohl so wenig werden wie es den Zustand der Gesellschaft ändern dürfte.
Allerdings lauert hinter der Nazi-Bibel noch ein anderes Erbe: jene rund 40 Nazi-Filme, die nicht frei vorführbar sind. Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) in Wiesbaden nennt sie Vorbehaltsfilme, da laut Verfassung keine Zensur stattfinden darf. Sie sind nicht verboten, aber unter Verschluss. Will jemand sie zeigen, ist das durchaus möglich, aber nur mit Einführung davor und Diskussion danach. Wodurch auch absurde Situationen entstehen. Als der Kulturkanal Arte am 21. März 1998 „Kolberg“ ausstrahlte, gab es allen Ernstes die Überlegung, den Film mit einer Debatte zu unterbrechen.
Der Gedanke der deutschen Seite setzte sich glücklicherweise nicht durch. Aber er signalisierte eine Unsicherheit gegenüber der nazistischen Kino-Hinterlassenschaft. 1240 Spielfilme entstanden in den Jahren 1933 bis 1945, nur ein sehr geringer Teil davon waren direkte Propagandastreifen, die Führer, Militär, Volksgemeinschaft, Blut und Boden verherrlichten, gegen Juden, Polen, England, Frankreich, die Sowjetunion hetzten. Natürlich gab es auch versteckten Antisemitismus („Robert und Bertram“, eine Biedermeier-Posse, „Venus vor Gericht“, eine Attacke auf entartete Kunst als Komödie) oder Geschichten, die weit auslegbar waren. So wurde Wolfgang Liebeneiners Sterbehilfe-Melodram „Ich klage an“ erst frei gegeben, dann in den 90er Jahren wieder auf die Liste gesetzt – als Euthanasie-Plädoyer. So stellten die Alliierten den harmlosen Krimi „Falschmünzer“ nur deshalb auch unter Verbot, weil zu viele SD-Uniformen und Hitler-Bilder zu sehen sind.
Jedenfalls sortierten alliierte Behörden 1945 die Nazifilme in drei Kategorien: frei gegeben, frei gegen Schnitte und verboten. Letzteres traf 219 Streifen. Im Laufe der Jahre verringerte sich die Zahl zusehends, bis noch etwas über 40 übrig blieben, darunter so dem Titel nach geläufige Produktionen wie „Jud Süß“, „Ohm Krüger“, „Carl Peters“, „Die Rothschilds“ (mit der antisemitischen Schluss-Überblendung, die Europa unterm Judenstern zeigt), „SA-Mann Brand“, „Hitlerjunge Quex“, „Stukas“ oder die wirklich üble Doku „Der ewige Jude“. Rätselhafterweise befindet sich unter den Vorbehalts-Filmen auch das Ehedrama „Fronttheater“, nicht aber „Nur nicht weich werden, Susanne“ (1935), der eigentlich als erster deutlich antisemitischer Film des Dritten Reiches gilt. oder ein Werk von Leni Riefenstahl. „Jakko“ ist ein so simpler Werbefilm für die HJ, dass heute sicher niemand mehr seiner Botschaft folgt, während „Heimkehr“ von Gustav Ucicky (Sohn des Malers Gustav Klimt), ein Lieblingsfilm von Propagandaminister Goebbels, ein antipolnisches Machwerk bleibt. Aber sollte man deshalb den tränentriefenden, intensiv-rassistischen Heim-ins-Reich-Gefängnismonolog der Volksdeutschen Maria nicht als historischen Beleg fürs Nazi-Denken sehen? Wirken dürfte er heutzutage ohnehin nicht mehr.
Im Dokfilm „Verbotene Filme“ hat Regisseur Oskar Roehler, der sich mit seinem Ferdinand-Marian-Drama „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ in die Nesseln setzte, für Offenheit plädiert: „Wer diese Sachen nicht kennt, weiß weniger über unser Land.“ Der Historiker Götz Aly forderte gleich die Freigabe aller Vorbehaltsfilme, deren Rechte zu einem Großteil bei der Murnau-Stiftung liegen. Im Stiftungs-Kuratorium sitzen fünf Vertreter der Filmwirtschaft und drei der öffentlichen Hand. Geredet wird hin und wieder über die Freigabe der Vorbehaltsfilme, dagegen sprechen sich regelmäßig die öffentlichen Vertreter aus. Sie fürchten um das deutsche Ansehen im Ausland.
Müssten sie eigentlich nicht, denn dort kursieren die Vorbehaltsfilme nicht erst seit gestern. Außerdem ist es kein Problem, die Streifen bei YouTube anzusehen, zwar nicht gerade in HD-Qualität, aber zur Information allemal ausreichend. Was also steht eigentlich der Idee von Oskar Roehler im Weg, eine DVD-Box mit 20 Titeln herauszugeben? Immerhin wurde 1965 bereits Kolberg“ durch den Atlas Filmverleih (ergänzt durch eine Doku, eine Wochenschau und Goebbels-Clips) in die Kinos gebracht. Der Erfolg war sehr mäßig: 400 000 Zuschauer. 50 Jahre später dürfte sich daran, trotz der Nazi-Doku-TV-Erfolge, wenig geändert haben. Kann mit den wenig subtilen Bildern und Dialogen der Nazifilme noch die Indoktrination rechter Stereotypen stattfinden? Zweifel dürften da wohl angemeldet werden.